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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Anschlagzettel verheißen, und Hartwig Hoven konnte mit der Erfüllung des Versprechens in jeder Hinsicht zufrieden sein. Die Wohnung war wirklich freundlich, sie wurde es noch mehr durch die Gunst des Frühlings, der jetzt nach den letzten Rückzugsgefechten des April als ein milder Sieger herrschte und die reinlichen, wohlausgestatteten Räume mit Sonnenschein und Fliederduft erfüllte. Und eine Bedienung hatte Hartwig Hoven, so aufmerksam, gewandt und anmutig, wie sie sich kein Fürst besser wünschen konnte. Ein Umstand, der für Frau Swarteborn freilich ein Quell schwerer Bekümmernis und endloser Klagen war, bot den Anlaß hierzu. Das Dienstmädchen hatte wieder einmal gekündigt, ein neues ließ sich trotz aller Anstrengungen von Mutter und Tochter nicht so schnell gewinnen, und so kam es, daß auf Hovens Zimmern, wenn auch meist nur in seiner Abwesenheit, ein angenehmerer Hausgeist waltete. Kein Grenadierschritt geschirrzerbrechender Mägde störte ihn in den Stunden des Ausruhens und Studierens, auch die elegische Aufmerksamkeit der Wirtin behelligte ihn nur ab und zu auf der Treppe oder im Hausflur, wo er dann die Aufzählung etlicher Posten aus ihrer Kummerrechnung höflich anhörte und sich mit einem Trostworte loskaufte. Hatte er aber einmal ein besonderes Anliegen, so erschien die schöne Haustochter, um seine Wünsche entgegenzunehmen, mit einer sanften und fast demütigen Miene, als hätte sie ihm stets etwas abzubitten.

Hartwig Hoven durfte sich dieser weiblichen Sanftmut ohne Verwunderung freuen, da er bisher ja mit Gertrud nicht näher verkehrt hatte. Frau Marie Swarteborn aber war schon längst durch ihre unablässige Selbstbetrauerung davon entwöhnt, auf den Seelenzustand ihrer Umgebung zu achten; sonst hätte ihr wenigstens die heitere Ergebung auffallen müssen, mit welcher Gertrud jetzt auch die ungerechtesten Vorwürfe hinnahm. In den ersten Tagen hatte Gertrud sich nur mit Zittern und Zagen der Mutter genähert; denn trotz aller Bemühungen war es ihr ja doch nicht möglich, zu verhindern, daß der neue Mieter mit der Hausfrau zusammentraf und vielleicht mit einer ganz harmlosen Bemerkung auf ihre heimlichen Postgänge anspielte. Alsdann aber hätte die beredteste Darlegung des unverfänglichen Sachverhalts nichts geholfen – die Mutter würde den winzigen dunklen Punkt im Betragen ihrer Tochter doch in ihre Klageliste aufgenommen haben, um ihn bei jedem Anlaß in ungeheuerer Vergrößerung wieder hervorzuheben. So oft Gertrud in diesen Tagen das Taschentuch in der mütterlichen Rechten sah und den wohlbekannten Eröffnungsseufzer vernahm, war sie auf ein peinliches Verhör gefaßt. Sie fühlte sich unendlich erleichtert, wenn dann nur eine Klage über nachträglich entdeckte Sünden der vorigen Magd oder über einen nächtlichen Straßenlärm erfolgte, oder eine mit breiter Sachkenntnis vorgetragene Betrachtung über eine drohende Gesundheitsstörung, die sich zweifellos hinter dem Ausbleiben der sonst üblichen Frühlingskopfschmerzen verberge. Herr Hoven hatte also noch nichts von ihrem ersten Zusammentreffen verraten! Während der ersten Tage hielt sie es für Zufall, jedesmal, wenn sie ihm begegnete, war sie fest entschlossen, ihn zu bitten, daß er auch ferner darüber schweige, aber sie fand das erste Wort nicht und es blieb stets bei dem einleitenden Erröten. Da er aber auch ihr gegenüber nie auf die Begegnung am Postschalter anspielte, so fing sie allmählich an, sein Schweigen auf Rechnung einer rücksichtsvollen Ritterlichkeit zu setzen, und ihre Angst vor dem gefährlichen Mitwisser verwandelte sich in eine wunderliche Neugier, was er wohl von der Sache denke.

Jedenfalls fühlte sie sich ihm zu Dank verpflichtet, und für ihr einfaches und gesundes Empfinden war dieses Gefühl gleichbedeutend mit dem Bestreben, den Dank auch zu bezeigen. Bescheiden danken ist eine weibliche Kunst, oder vielmehr die weibliche Natur versteht es von selbst besser, als alle männliche Philosophie es lehren mag: sie beschränkt ihre dankbare Fürsorge nicht auf den Spender, sie läßt sie auch allem zu gute kommen, was ihm besonders wert scheint. Hartwig Hoven hatte noch nie in einem Hause gewohnt, wo er die eigensinnigen Gewohnheiten, mit denen sich jeder Mann nach seiner besonderen Weise den Wohnraum erst wohnlich macht, so folgsam beachtet fand – aber auch noch nirgendwo hatte man seine mancherlei Andenken an eine allzu früh verlorene Heimat, an Freunde und Freuden: Bilder und andere schmückende Kleinigkeiten auf dem Schreibtisch und an den Wänden, so sorgsam und sauber gehütet – vor allem seine Bücher, die in schönen Einbänden ein stattliches Doppelregal füllten und alles in allem wohl seine treuesten Gesellen waren. Kein Stäubchen auf Einband und Schnitt entging Gertruds Federbesen. Hier allein fühlte sie sich zuweilen auch versucht, eigenmächtig in die Ordnung des Eigentümers verstohlen einzugreifen; denn wie alle Frauen betrachtete sie auch die Aufstellung von Büchern vor allem nach den Regeln des Ebenmaßes, und es war ihr eine Art Augenschmerz, einen kleinen Oktavband mit goldener Aufschrift auf dem roten Rücken einsam und fern von seinen gleichgroßen und gleichgekleideten Genossen zwischen zwei dicken Riesen in braunem Lederband zu sehen, wie einen lustigen Pagen zwischen zwei Kapuzinern, bloß weil vielleicht der Inhalt irgend eine fachliche Verwandtschaft mit den braunen Nachbarn aufwies.

Ueber solchen rebellischen Gedanken traf Hartwig Hoven sie eines Tages, als er zu ungewohnter Stunde seine Wohnung betrat. Er entschuldigte sich höflich und bat sie, sich nicht stören zu lassen – er wollte nur einige Cigarren einstecken. Sehr eilig schien er es damit nicht zu haben, er kramte ziemlich lange an dem Tische hinter ihr herum, und als sie sich verstohlen umsah, saß er sogar auf dem Sofa und betrachtete sie so angelegentlich, als ob er die Cigarren völlig vergessen habe. Sie wurde rot, und um nur etwas zu sagen, bemerkte sie: „Sie haben aber viele Bücher! Wozu brauchen Sie die nur alle?“

Es war jedenfalls eine sehr dumme Bemerkung, sie fühlte das, während sie sprach, und war schon auf ein spöttisches Lachen gefaßt. Hartwig Hoven aber lächelte nur ein wenig und erwiderte, indem er sich erhob und näher trat: „Wissen Sie denn, was in den Büchern steht?“

Sie nahm sich zusammen. „Hier diese“ antwortete sie und deutete mit dem Federwedel auf das erste Regal, „handeln alle von Geographie, Staaten- und Völkerkunde, Forschungsreisen und dergleichen. Ich habe es von den Einbänden abgelesen. Sie sind aber doch kein Forschungsreisender und überhaupt kein Gelehrter von Beruf.“

„Das nicht,“ erwiderte er ungekränkt. „Aber ich gebrauche sie doch für meinen Beruf als Postbeamter; oder vielmehr für mich, um diesen Beruf, in dem ich nur ein einzelner Soldat bin, recht aufzufassen, seine Grundlagen, seine Ursache und Bestimmung, alles, was ihn fördert und hemmt, schätzen zu lernen.“

Sie sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. „Das verstehe ich noch nicht,“ sagte sie ehrlich und erhob ihre Augen lernbegierig zu ihm.

„Nun,“ fuhr er fort, „ich will versuchen, Ihnen zu sagen, was ich meine. Sehen Sie, alle diese Bücher da, deren Inhalt Sie an den Aufschriften erkannt haben, dienen am letzten Ende doch alle dem einen Zweck, unser Wissen über die Erde und die Völker und Staaten der Erde zu erweitern. Dieses Wissen aber ist erst die Grundlage dessen, was wir den Weltverkehr nennen; oder vielmehr es steht damit in Wechselwirkung: je mehr die Völker voneinander wissen, um so geordneter und häufiger können sie miteinander verkehren, und je mehr sie friedlich miteinander verkehren, um so mehr lernen sie voneinander kennen. Und unter all den Einrichtungen, die diesem friedlichen Verkehr dienen, ist die scheinbar bescheidenste vielleicht doch auch die wichtigste: die Post! Es ist ja heute leichter und sicherer, über den Ocean zu reisen, als früher von einer Stadt zur nächsten; aber es ist doch immer nichts Leichtes. Der Mensch ist eine schwerfällige Ware. Da schickt er statt seiner das leichte Wort: er vertraut es geschrieben, gedruckt dem Papier an, oder er giebt es dem elektrischen Strom, der es im Augenblick Hunderte von Meilen weit trägt. Das alles besorgt die Post. Sie sammelt die Aufträge von all den Millionen Menschen eines großen Landes, und indem sie deren Ausführung in ihrem einen gewaltigen, bis ins kleinste geregelten Betrieb zusammenfaßt, verringert sie für den einzelnen die Kosten, während sie ihm zugleich für die Sicherheit und Unverletzlichkeit seiner Bestellung bürgt. Sie verknüpft die Völker und Länder rund um die Erde mit friedlichen Verträgen und läßt das Schreckliche des Raumes schwinden, der vordem den armen Auswanderer auf immer von den daheimgebliebenen Lieben schied; denn für wenige Pfennige trägt sie aus dem fernen Lande, über Meere und Erdteile, seine Grüße herüber, sicherer, als ein heimreisender Freund es vermöchte.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0416.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)