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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Während Hartwig Hoven so sprach, lauschte Gertrud aufmerksam, ihre Züge waren nachdenklich gespannt und ihre großen braunen Augen glänzten. Ihre bisherige Vorstellung von dem Wesen der Post hatte sich eigentlich auf die wenigen Punkte beschränkt, an denen sie mit diesem Wesen unmittelbar in Berührung kam. Die Post war für sie eine selbstverständliche Staatseinrichtung, mit einem Briefkasten am einen Ende und einem Briefträger am andern, und angenehm zu benutzen: hatte man eine geschäftliche oder freundschaftliche Bestellung in der Stadt und keine Zeit, die Sache mündlich zu erledigen, so schrieb man sie auf eine Postkarte, steckte diese in den Kasten und am selbigen, spätestens am folgenden Tage trug der Briefträger die Karte zum Empfänger. Zuweilen, besonders um Weihnachten und Neujahr, verspätete sich eine Sendung, und dann pflegte man auf die Post zu schelten. Von dem Innern dieses seltsamen Betriebes und seiner Bedeutung aber hatte sie sich nie eine Auffassung gebildet, selbst im Hauptpostgebäude ihrer Vaterstadt war sie nur selten und ungern gewesen, und ihre jüngsten Besuche dort lasteten ihr noch schwer auf dem Gewissen. Nun trat ihr aus den begeisterten Worten des jungen Beamten auf einmal ein so gewaltiges Bild entgegen, daß sie Mühe hatte, es zu erfassen. Ebenso neu aber und noch ergreifender war ihr eben dies, einen Mann so begeistert und groß von seinem Beruf reden zu hören. Denn ihr Umgang war, dank der wehleidigen Art ihrer Mutter, nicht ausgedehnt, und die jungen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, pflegten den Beruf mehr oder minder deutlich als eine Lebensversorgung zu betrachten oder als die Leiter zu einem, wie sie klagten, nur zu spät zu erreichenden sorgenlosen Genießen.

Da sie noch immer schwieg, lächelte Hartwig Hoven etwas verlegen und sagte in seinem gewöhnlichen Tone: „Ich fürchte, ich bin mit meinem Erklärungsversuch nur erst recht ins allgemeine gekommen und habe Sie mehr verwirrt als überzeugt.“

„O nein,“ antwortete sie lebhaft, „ich bin Ihnen sehr dankbar! Ich glaube, ich habe es verstanden und werde noch viel darüber nachdenken. – Wie glücklich Sie sind, daß Sie einen Beruf erwählen durften, der Sie so voll befriedigt! – Ich meine, darin sind die Herren überhaupt bevorzugt. Unsereins hat es selten so gut.“

Er sah sie überrascht an. „Darüber wird ja jetzt viel gedruckt und geredet,“ sagte er. „Man verlangt mehr weibliche Erwerbszweige, Zulassung der Frauen zu Berufen, die ihnen bisher verschlossen schienen – es ist viel guter Wille in diesen Bestrebungen, und sie werden gewiß auch ihr Gutes bewirken. Aber im großen und ganzen ist es doch nur eine Sache der Not, eine Forderung zu gunsten solcher, die unter dem Zwang ungesunder äußerer Verhältnisse leiden. Der Beruf des Weibes liegt nicht draußen in der Oeffentlichkeit, und es bleibt eine Verirrung, sich ohne dringende Veranlassung aus ihm nach irgend einem minder hohen Wirkungskreise zu sehnen, denn kein anderer Beruf ehrt seine Arbeiterinnen so hoch und keiner braucht sie so nötig.“

Nun lächelte sie, fast schalkhaft. „Ich würde aber doch gern auch teilnehmen an den höheren Interessen, um derentwillen die Herren so viel studieren.“

Er lachte ein wenig und steckte nun wirklich seine Cigarren ein. „Trösten Sie sich,“ sagte er, „manche Dinge lernt man auch anders als aus Büchern, und am besten ist es, wenn man sie gelernt hat, ohne es zu wissen.“ Damit schüttelte er ihr herzhaft die Hand und empfahl sich.

Es vergingen einige Tage, ehe sie wieder ihr wirtschaftliches Amt zu einer Unterhaltung mit dem jungen Beamten kommen ließ, der von seinem Berufe so hoch dachte. Vom Buchbinder waren einige frischgebundene Werke für ihn abgegeben worden und er hatte sich erlaubt, Fräulein Gertrud herbeizurufen, um ihren Rat bei der Unterbringung der Bände in Anspruch zu nehmen. „Die Bücher hier auf dem zweiten Regal,“ fragte sie dabei, „brauchen Sie doch aber nicht zu Ihrem Beruf?“

„Nein,“ erwiderte er. „Die brauche ich, um mich vor meinem Beruf zu schützen. Oder auch, wenn Sie lieber wollen, um mich für ihn stark zu erhalten. Denn ein Mensch, der für seine Arbeit keinen Sinn hat, kommt gewiß nicht weit, aber ein Mensch, der nur für seine Arbeit Sinn hat. der verkommt geistig rettungslos. Das gilt für jeden, ich glaube, sogar für die Dichter selbst gilt es, aber am meisten für uns, die wir in einem ungeheueren Getriebe als einzelne mitarbeiten. Denn was der einzelne da liefern muß, das ist an sich eben größtenteils Holzhackerarbeit und wiederholt sich von einem Tag zum andern. Der beste Teil des Geistes ist dabei nicht nötig, und er würde eindorren oder absterben wie ein Glied, das man nicht gebraucht, wenn man ihm nicht auch zuweilen sein Recht gäbe und von allem Beruf absähe, um nur dem einen zu dienen: sich selbst zu erbauen und zu bilden. Wer diesem Beruf nicht dient, dem hilft alle andere Tüchtigkeit nicht zum Glück, er versauert, wird mißmutig in sich selbst und zuletzt auch den anderen unleidlich.“

Gertrud nickte traurig. Sie mußte bei seiner Schilderung an ihre Mutter denken, und es that ihr weh, daß sie dabei an sie denken mußte. Hartwig Hoven aber war so befangen in seinen eigenen Gedanken, daß er ihre Betrübnis übersah und fröhlich fortfuhr: „Sehen Sie, solche Bücher da – das ist auch eine Post, aber freilich eine schönere als die unsere. Das sind die Briefe, die uns die großen Dichter und Denker, von Jahrtausenden her bis auf die noch mit uns lebenden, senden, und es verwehrt uns niemand, ihnen zu antworten, mit Gedanken, die sie uns erwecken, und vielleicht auch mit einem gefaßten und heiteren Herzen, das sie in uns stärken.“

Sie nickte ernst, doch nicht mehr traurig wie zuvor, dankte kurz und ging. Als er am Abend nach Hause kam, stand sie mit Thea Siebold im Gespräch unter der Thür. Das romantische Fräulein war von seiner Reise zurückgekehrt, nachdem es, laut seiner eigenen Versicherung, mehreren ländlichen Verehrern die Köpfe kolossal verdreht und sich zweimal beinahe verlobt hatte. Ueber diesen wichtigen Ereignissen, die es „nur im Vorbeigehen“ und immer „auf dem Sprunge“ mit großer Wortfülle schilderte, vergaß es fast die Freundin auszuschelten, weil sie sich den Botengängen nach der Post nicht ferner unterziehen wollte. Eben als es sich diesem Thema zuwendete, schritt Hartwig Hoven mit höflichem Gruße an ihnen vorüber.

„U je,“ flüsterte Thea, „wohnt Der jetzt bei euch’? Na, dann natürlich nicht. Das hättest du mir ja nur zu schreiben brauchen. Du, das finde ich aber kolossal! Weißt du, das ist ja gerade Der, mit dem Vater mich durchaus unter die Haube bringen möchte. Vater spricht den ganzen Tag von ihm. Ein langweiliger Mensch, viel zu ernst. Aber nun muß ich wirklich fort – es ist so schon kolossal, wie lange ich mich aufgehalten habe.“ Damit nahm sie zärtlichen Abschied und hüpfte davon, da sie auf eine interessante Begleitung diesmal nicht zu hoffen schien.

Hartwig Hoven erschrak über das verstörte Gesicht Gertruds, als er gleich darauf im Vorflur ihrer ansichtig wurde, aber sie versicherte, es sei nur ein wenig Kopfschmerz. Doch als darauf Hoven sein Zimmer öffnete und sie bemerkte, daß das inzwischen gemietete neue Mädchen darin das Kaffeegeschirr aufzuräumen vergessen hatte, schritt sie an ihm vorüber, um es selbst zu thun, und fragte dabei obenhin: „Kannten Sie die Dame, die eben bei mir war?“

„War es nicht Fräulein Siebold?“ fragte er gleichmütig.

„Ja,“ antwortete Gertrud. „Ihr Vater ist wohl Ihr Vorgesetzter?“

„Gewiß,“ erwiderte er.

„Er schätzt Sie gewiß sehr.“

„Daß ich nicht wüßte,“ versetzte er lachend. „Er ist ein freundlicher und gerechter Chef, mehr verlangt man ja nicht. Als ich bei ihm im Hause den üblichen Antrittsbesuch abstattete – daher kenne ich auch das Fräulein – da machte er ja wohl einige schmeichelhafte Bemerkungen, sprach von dem hoffentlich glänzenden Verlauf der Prüfung für die höheren Stellen, vor oder vielmehr in der ich jetzt stehe, von geselligem Verkehr und dergleichen. Aber das ist eben das Uebliche. Es würde fast verletzen, wenn es nicht gesagt würde, aber Bedeutung hat es nicht.“

„Hab’ ich es doch gedacht!“ murmelte Gertrud.

„Was?“ fragte er.

„Ach – da sehen Sie nur,“ versetzte sie hastig. „Unser neues Mädchen; nun hat sie Ihnen wieder ein Stückchen an der Milchkanne abgestoßen. Und es dann nicht zu sagen! Aber so macht sie es immer,“ fuhr sie zornig fort, doch es klang nicht echt, und ihre vorher so blassen Wangen färbte ein heiteres Rot, das zur vollen Farbe der Verwirrung umschlug, als er gelassen erwiderte: „Diesmal thun Sie ihr doch unrecht. Der Sprung ist alt, das können Sie am Rande sehen.“

(Schluß folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0418.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)