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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

steigern sich dieselben natürlich ganz bedeutend in jenen Gegenden, wo die gebahnten Pfade ein Ende finden. Das ist im allgemeinen der Fall über jener Höhe, in der die letzten Sennhütten, die letzten Unterkunftshäuser der Alpenvereine liegen.

Zu allen Hochtouren gehört ein gewisses Durchschnittsmaß von körperlicher Kraft und Ausdauer, eine einigermaßen genügende Ausrüstung und entweder ein guter Führer oder ein hoher Grad von Erfahrung und Uebung. Wem eine dieser Eigenschaften fehlt, der spielt, wenn er dennoch Hochtouren unternehmen will, geradezu um sein Leben. Aber wie oft wird nicht gegen diesen Erfahrungssatz gesündigt! Wie oft begegnet man nicht jungen Leuten, die, ohne ihre Kraft und Ausdauer geprüft zu haben, mit mangelhafter Ausrüstung, ohne Führer und ohne ausreichende Erfahrung sich in die Schrecknisse des pfadlosen Hochgebirges wagen!

Es giebt ja manche, selbst vergletscherte Jochübergänge oder Gipfeltouren, die selbst von Ungeübten ohne Führer begangen werden können und doch mitten in die großartigste Hochalpenpracht führen. So etwa die vielgenannten Paßübergänge über die Pfandelscharte, über den Velber und Krimmler Tauern oder über das Venter Hochjoch, den Gemmipaß u. a. Aber selbst solche Wanderungen können bei bösartigen Unwettern geradezu todbringend werden.

Ueber das Maß der eigenen Kraft und Ausdauer muß sich jeder, der eine Bergwanderung antritt, selber im klaren sein. Einen Weg anzutreten, von dem man nicht sicher weiß, daß man die Ausdauer besitzt, die er erfordert, ist Vermessenheit. Die erste Bedingung für jeden, der eine Hochtour antritt, ist die, daß er weiß, wie lange Zeit die Tour durchschnittlich beansprucht und wie lange seine Kräfte reichen. Die Fälle, daß Bergwanderer lediglich an Erschöpfung zu Grunde gehen, selbst bei nicht ungünstiger Witterung, sind selten und treffen meist nur ältere Leute.

Schlechte Ausrüstung kann selbst bei genügender Körperkraft und Uebung die schwersten Gefahren bringen. Ein ungenagelter Schuh kann auf einer steilen Rasenböschung ein Ausgleiten und Fortrollen bis zum tödlichen Sturz über die nächste Felswand verursachen. Ein unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstand ist bei allen Wanderungen über Gletscher und Firnfelder das Seil. Aber wirklich hilfreich ist dasselbe nur, wenn man auch seine Anwendung genau kennt. Jede Wanderung ohne Seil über ein zerklüftetes Eis- oder Firnfeld ist eine Wanderung auf Leben und Tod. Seit mehr als einem Menschenalter verzeichnet die Geschichte der Alpenwanderungen eine Reihe von tödlichen Unfällen, die im ewigen Eise durch Mangel eines Gletscherseiles herbeigeführt wurden. Auch die Eisaxt gehört zu jenen Ausrüstungsgegenständen, die ein einigermaßen erfahrener Bergwanderer nur höchst ungerne vermißt.

Bei weitem die häufigsten Unfälle werden durch den Mangel eines Führers verursacht. Gerade das führerlose Wandern aber hat einen ganz eigenartigen Reiz. Sich selber Pfadfinder zu sein –: das ist ja unvergleichlich schöner als das Hertraben hinter einem Führer. Selber die Zugänglichkeit einer Berglandschaft zu prüfen, in dem großartigen Aufbau ihrer Fels- und Eisgebilde, zwischen ihren drohenden Gefahren hindurch jene Gassen und Naturtreppen, Pforten und Rinnen, Gesimse und Schründe zu finden, die ein Weiterkommen gestatten: das ist eine Thätigkeit für den Wagemut, für den spürenden und entdeckenden Gedanken, wie sie kaum reicher gefunden werden kann.

Aber der Mangel eines Führers kann dabei nur ersetzt werden durch eine langjährige Erfahrung, verbunden mit überdurchschnittlicher Kraft und Ausdauer, mit voller Schwindelfreiheit und Klettergewandtheit, wozu auch noch eine gute Ausrüstung, namentlich tüchtige Spezialkarten gehören. Nur wer über alle diese Bedingungen verfügt, ist berechtigt, ohne sich dem Vorwurf groben Leichtsinns auszusetzen, in jene Hochgebirgsregionen einzudringen, wo die gebahnten Pfade enden, die Abgründe gähnen und in den Gletscherklüften das blaue Grausen dämmert.

Unter allen Berggruppen des großen Alpengebietes ist keine so reich an Unfällen wie die nordwestlich vom Semmeringpaß sich auftürmende Raxalpe, ein Hochplateau mit teilweise sehr steil abfallenden Wänden. Obwohl nur bis zur Höhe von 2009 m aufragend, ist sie doch von zahlreichen, mitunter recht schwierigen Kletterpfaden, die sich vielfach verzweigen, überdeckt. Ihre Lage in der Nähe von Wien und an der Semmeringbahn macht sie zum beliebtesten Ausflugsgebiet der Wiener Alpenfreunde, das von erfahrenen, aber auch von ganz unerfahrenen Bergwanderern zu jeder Jahreszeit stark besucht ist. Da die jungen Leute, die in Scharen nach der Raxalpe wandern, schon aus Sparsamkeit meist führerlos gehen, ist der schöne Berg im Laufe der Zeit zu einem großen Kirchhof geworden; Jahr um Jahr verzeichnet die Unfallschronik eine Anzahl von tragischen Ereignissen, die in den Schluchten und an den Wänden dieses Berges sich ereigneten. Und fast alle diese Ereignisse hängen irgendwie mit dem Leichtsinn und der Unerfahrenheit der Jugend zusammen.

Manche Arten von Unfällen, die bei eigentlichen Hochtouren sich ereignen und auch den umsichtigsten, gewandtesten und erfahrensten Alpenwanderer treffen können, werden nie zu vermeiden sein: unvorhergesehene Witterungsumschläge mit Schneestürmen, Schnee- und Eislawinen, Steinschläge und stürzende Schneewächten. Auch eine momentane körperliche Indisposition kann einem tüchtigen und kundigen Bergwanderer zur Ursache eines jähen Todes werden. In solchen Fällen wird aufrichtige Sympathie dem Verunglückten zu teil. Aber gerechte Mißbilligung auch begeisterter Alpenfreunde erregen jene Unfälle, die augenscheinlich nur durch Unerfahrenheit und grundlosen Leichtsinn herbeigeführt wurden.

Die Gefahren sind nicht da, um ängstlich geflohen, sondern um überwunden zu werden. Aber dieser Erfolg winkt nur dem, der seine eigene Leistungsfähigkeit und die Höhe der Gefahren richtig zu werten weiß. Wer sich sagen muß, daß er dazu nicht imstande ist, der bleibe auf den gebahnten Pfaden der Thäler und weiche von ihnen nur ab unter der Leitung erprobter Führer.

Die Zahl der alpinen Unfälle mit tödlichem Ausgange betrug 1898 im ganzen 59; 1897 hatte sie 54 betragen. Ausgleiten auf Fels, Schnee und Eis war in den meisten Fällen die unmittelbare Ursache; und die meisten der Touren, bei welchen diese Unfälle sich ereigneten, waren führerlos. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß die obigen Zeilen nicht für jene erfahrenen Touristen geschrieben sind, welche die Befähigung zu führerlosen Hochtouren sich erworben haben, sondern für die weitaus größere Zahl der Unerfahrenen.




Ausgeglichen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).
(Schluß.)


3.

Die angebliche Absicht des alten Postrats, Hartwig Hoven durchaus an seine Tochter zu fesseln, war also nur eine von den vielen Einbildungen des romantischen Fräuleins gewesen. Thea hatte irgend eine lobende Bemerkung des Vaters über seinen jungen Gehilfen – eine Bemerkung, die Gertrud selbstverständlich fand, ohne sie zu kennen – nach ihrer eitlen Weise ausgedeutet und sich darauf einen kleinen Roman zusammengedichtet. Gertrud war über diese einfache Lösung so erfreut, daß sie dem unbesonnenen Ding nicht einmal recht zu zürnen vermochte. Als sie einige Tage später Thea begegnete, hörte sie deren Geschwätz geduldig an und ließ sich ohne Einsprache noch zwei oder drei neue Verehrer beschreiben, welche Thea bei ihrer ersten Aufzählung vergessen hatte. Trotz ihres ländlichen Massentriumphes schien Thea doch nicht ganz zufrieden; sie sprach von ihrem unbekannten Briefsteller, und zwar in sehr bitteren Ausdrücken, die zu der früheren romantischen Begeisterung wenig paßten. „Denke dir, der Mensch hat noch immer nicht geantwortet,“ klagte sie.

„Vielleicht kann er alle deine Briefe nicht so rasch wieder zusammenfinden,“ meinte Gertrud. „Es war jedenfalls gut, daß du sie in der Nachschrift entschieden zurückgefordert hast.“

„Jawohl,“ erwiderte Thea verlegen, denn es fiel ihr nun doch aufs Gewissen, daß sie jene Nachschrift trotz ihres Versprechens an Gertrud durchaus nicht so entschieden abgefaßt hatte. „Nun,“ fuhr sie fort, „endlich wird er doch schreiben; die Gudula Wöllchen ist schon zweimal vergeblich auf der Post gewesen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0440.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)