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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Also die Gudula Wöllchen besorgt das jetzt für sie, dachte Gertrud, nachdem sie sich getrennt hatten. Mich wundert nur, daß sie nicht von vornherein an die gedacht hat. Denn Fräulein Gudula Wöllchen war eines von jenen gutherzigen Geschöpfen, an die alle Welt zuerst denkt, wenn es gilt, eine undankbare Rolle unterzubringen. In der Schule, wo sie mit Gertrud und Thea in einer Klasse saß, war sie durch vier Dinge berühmt geworden, durch die Masse ihrer aschblonden Haare, die Größe ihres Frühstücksbrotes, die Geringfügigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistungen und vor allem durch ihre Gutmütigkeit. Sie wurde nicht einmal böse, wenn man über ihren Namen spottete und aus ihm unfreundliche Folgerungen auf ihren geistigen Zustand zog, und das ist das sicherste Zeichen einer kaum zu kränkenden Sanftmut. Nach der Schulzeit hatten sich die Wege geschieden, Gudula Wöllchen war in das Helldunkel der väterlichen – schon großväterlichen Weinstube zurückgetaucht, wo sie den häuslichen Geschäften mit viel mehr Neigung und Anlage nachging als vordem den Idealen höherer Mädchenbildung, und ihre Freundinnen aus sogenannten besseren Kreisen erinnerten sich ihrer meist nur, wenn es sich um eine Gefälligkeit handelte, für die sie sich selber zu gut dünkten: alsdann war die Gudula Wöllchen immer bereit, aus der Not zu helfen, und da sie es ohne Empfindlichkeit und Anspruch auf gesellschaftliche Gegendienste that, so erschien sie in den Augen von Thea Siebold und ihresgleichen mit jedem geleisteten Gefallen noch etwas dümmer.

Für Gertrud war die ganze Briefgeschichte ja nun abgethan. Hartwig Hoven hatte noch immer nicht mit dem leisesten Winke darauf angespielt, er schien die Sache vergessen zu haben, und sie hätte um alles in der Welt ihn nicht mehr daran erinnern mögen, zumal sie jetzt viel Besseres mit ihm auszutauschen hatte: Urteile und Anmerkungen über dieses und jenes gute Buch aus dem zweiten Regal, das sie auf seinen Rat gelesen, und eigene Gedanken und Lebensfrüchte, die unter den anregenden Lichtstrahlen der großen Dichter und Denker ganz von selber reiften wie draußen im Garten die roten Kirschen unter der warmen Frühlingssonne. Gertrud hatte vordem nur wenig gelesen, die hinterlassene Bücherei ihres Vaters war gering und übel zusammengestellt und in dem Ausgabenplan der Mutter gab es keinen Posten offen für Bücher. Nun empfand sie zuerst die Befriedigung eines unbewußt lange gehegten Seelenhungers, das beste, was ein und der andere große und klare Geist erdacht, in reinlichem Bande still für sich zu genießen und alsbald mit einem anderen, erfahreneren Leser prüfend und nachgenießend zu bereden. In der Nachwirkung solcher stillen Freude und dem sicheren Vorgefühl ihrer Fortsetzung ertrug sie leichter die üble Stimmung der Mutter. Und wirklich that eine solche Stärkung not, denn da Frau Marie Swarteborn seit einiger Zeit gar nichts Betrübendes zu erleben bekam, der neue Mieter und sogar das neue Mädchen gut thaten, die Tochter immer freundlich war und die oft prophezeite Krankheit hartnäckig ausblieb, so griff sie immer tiefer in den Quell selbstgeschaffener Leiden und war zuweilen wohl hart daran, vor lauter Sehnsucht nach Betrübnis den Verstand zu verlieren oder ihre nächste Umgebung um den ihrigen zu bringen.

Eines Abends hatte Gertrud eben den kleinen Theetisch im Zimmer ihrer Mutter gedeckt, als Hartwig Hoven eintrat, um anzufragen, ob er ihr ein neues Buch leihen dürfe. Er that dies jetzt öfter. Heute aber geschah es in einer ihm sonst völlig fremden Befangenheit. Den „Blonden Eckbert“ von Tieck, den er ihr ein paar Tage vorher gegeben, hatte er auf seinem Tisch vorgefunden und während er ihr nun zusah, wie sie die Spiritusflamme unter dem messingenen Kesselchen entzündete und geschickt daran herumhantierte, fragte er einleitend, wie ihr die seltsame Dichtung gefallen habe. „Sie ist wohl schön, aber furchtbar unheimlich und trostlos,“ antwortete sie. – „Ja,“ antwortete er etwas zerstreut, „es ist schwere Kost. – Was ich Ihnen noch sagen wollte,“ fuhr er plötzlich fort, indem er das mitgebrachte Buch auf den Tisch legte, „es liegt auch seit gestern ein Brief auf der Post, Psyche 111 postlagernd, ich habe es heute zufällig gesehen.“

Das traf sie so wunderlich, all die halbvergessene Angst und Unsicherheit jener ersten Tage nach seinem Einzug drängte sich ihr in einem Augenblicke lähmend zusammen, daß ihr war, als ob Bewegung und Sprache plötzlich versagten. Doch raffte sie sich zusammen und stieß hastig die Worte hervor: „Das geht mich jetzt nichts mehr an.“ Und da sie sogleich selber das Zweideutige dieser Worte empfand, setzte sie hinzu: „Es war für jemand anders, und ich wollte, ich hätte es nicht gethan.“

Dann schwieg sie und starrte in die Spiritusflamme, über der es im Kesselchen jetzt traulich zu summen begann. Hartwig Hoven war von der anderen Seite an das Tischchen getreten, er schwieg auch und betrachtete aufmerksam ihr gesenktes Haupt mit den vollen braunen Flechten über der weißen Stirn.

Endlich sagte sie leise: „Ich möchte sehr gern wissen, was Sie sich bei der Sache dachten.“

„Würde es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen einfach sagte, daß ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe?“ fragte er. „Unser Dienst sorgt dafür, daß wir an dem, was durch unsere Hände geht, wirklich viel weniger Anteil nehmen als das Publikum denkt.“

„Nein,“ erwiderte sie und sah ihn fest an, „das würde mir nicht genügen. Denn Ihre Antwort beweist mir ja schon, daß Sie doch darüber nachgedacht haben.“

„Sie sind gründlich wie immer,“ versetzte er lächelnd. „Es ist aber doch im allgemeinen richtig, was ich eben sagte, und wenn ich in diesem einzelnen Falle die geziemende Diskretion – in Gedanken – ein wenig überschritt, so müssen Sie mir schon erlauben, Ihnen zu sagen, daß Ihre postalische Anfrage daran weniger die Schuld trug als Ihre Person. Oder vielmehr der Gegensatz zwischen dieser Person und der Vorstellung, die man sich der leidigen Erfahrung nach von der Empfängerin eines Briefes mit derartiger Aufschrift macht … Nachdem ich Sie dann näher kennenlernte, wurde mir dieser Gegensatz alsbald entscheidend – und so habe ich mir, um Ihnen alles zu sagen, die Sache längst ungefähr so zurecht gelegt, wie Sie mir sie vorhin erklärten. Sind Sie nun zufrieden?“

Gertrud atmete tief auf. „Ja,“ sagte sie. „Und ich danke Ihnen herzlich. Aber sagen Sie nur, ist es denn auf alle Fälle so etwas Schreckliches um postlagernde Briefe?“

„Gewiß nicht!“ antwortete er lachend. „Es ist eine gemeinnützige Einrichtung wie andere. Die Post hat auch das mit den zwei größten Erfindungen, mit der Schrift und dem Buchdruck, gemeinsam, daß sie ihre Vorteile ganz unparteiisch den Guten und Bösen zu Gebote stellt, und unsereins denkt, wie ich Ihnen schon sagte, nicht daran, diese Unparteilichkeit durch vorwitzige Vermutungen zu beschränken. Dazu fehlt uns einfach die Zeit … Aber andere Leute haben vielleicht dazu mehr Zeit, und wenn es verlautet, daß eine junge Dame sich postlagernde Briefe unter einem poetischen Stichwort schicken läßt, so hat sie bei sogenannten guten Freunden und Freundinnen die Vermutung gegen sich … Verzeihen Sie – das soll keine Warnung sein, sie wäre ja überflüssig nach dem, wie sich die Sache verhält …“

Gertrud schüttelte den Kopf. „Ich würde Ihnen auch eine Warnung gewiß nicht verübeln,“ sagte sie herzlich und reichte ihm die Hand. Er blickte ihr in die Augen und that einen Schritt vorwärts.

In diesem Augenblick brodelte und zischte es zwischen ihnen, und eine blaugelbe Flamme loderte durch den weißen Wasserdampf hoch auf. Diese winzige Feuersbrunst, die im Nu unter Lachen und Scherzen gelöscht wurde, war aber doch ausreichend, einem anderen Feuerchen zwischen den beiden für diesmal die Luft zu nehmen. Nun trat auch die Mutter ein und das Gespräch war zu Ende.

Am folgenden Tage that Hartwig Hoven, was wir tugendhaften Leute öfters thun, er widerlegte seinen moralischen Vortrag durch das eigene Beispiel. Denn da er kurz vor Schluß der Poststunden zufällig hörte, wie der postlagernde Brief an Psyche 111 ausgeliefert wurde, sah er sich die geheimnisvolle Psyche genau an; aber er fand nicht, was er vermutete. „Nein,“ dachte er, „Fräulein Siebold ist es nicht, wenn sie ihr auch ungefähr an Fülle gleichkommt. Es wäre ja auch zu dumm, wenn sie selber käme. Aber was geht es mich an, ob das Zeug für sie ist oder für einen andern?“ Mit diesem Satze lenkte er wieder in den Pfad der Tugend, seine Augen aber beharrten noch auf der Bahn der Sünde, sie folgten der unbekannten Empfängerin des dicken rosafarbenen Briefes bis zur Ausgangsthür und gewahrten, wie sich dort ein Herr im Reiseanzug, der vorher auch nach postlagernden Briefen gefragt hatte, zu ihr gesellte. „Sieh mal an,“ brummte Hartwig Hoven in einem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0442.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)