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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Ich wußte gar nicht, daß Sie noch eine so nahe Verwandte haben,“ versetzte Gertrud. „Sie haben mir nie etwas davon erwähnt.“

„Es hat seine Gründe,“ erwiderte er. „Wenn ich Ihnen Gutes von ihr erzählen sollte, so hätte ich Ihnen höchstens ihre Kuchenrezepte aufzählen können; denn darin ist sie allerdings stark… Sie ist ein ältliches Fräulein, unabhängig, gescheit und gewandt in vielen Dingen, in der Rede sogar sehr; aber sie leidet am schlimmsten Uebel, das alleinstehende und kluge Menschen befallen kann: an her Selbstgerechtigkeit und Wohlweisheit; und ich fürchte, sie reist eigentlich nur so viel herum, um immer neuen Opfern vorrechnen zu können, wie sehr jene nach Verdienst leiden, wie sehr sie noch zu leiden bekommen, und wie glücklich sie es dagegen nach Verdienst hat.“

„Das ist eine harte Schilderung,“ meinte Gertrud lächelnd. „Wissen Sie wirklich nichts Besseres von ihr zu sagen?“

„Sie erinnern mich zur rechten Zeit,“ erwiderte er etwas beschämt. „Ich müßte allerdings noch hinzufügen, daß sie es mit mir in ihrer Art immer gut meinte und mir sogar manchmal eine Beihilfe angeboten hat, die ich glücklicherweise nicht zu benutzen brauchte, denn sie wäre mir oft genug vorgerechnet worden. – Uebrigens kommt mir der Auftrag doppelt ungelegen. Denn eben heute vormittag hat mir der Chef eröffnet, daß ich vom nächsten Montag an auf einen Monat oder länger hinaus soll. Es giebt da in einem über Nacht angewachsenen Industrienest, acht Stunden von hier, ein neues Postamt einzurichten, und dieser Auftrag ist mir gewissermaßen als ein Abschnitt meiner Prüfungsarbeiten zu teil geworden.“

Gertrud erblaßte sehr. „Es ist wohl eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?“ sagte sie mit unsicherer Stimme; und fast wider Willen fügte sie hinzu: „Wir werden Sie gewiß die Zeit über sehr vermissen. Es ist ohnedies so einsam bei uns.“

Er war hastig ein paarmal das Zimmer abgeschritten und blieb nun vor ihr stehen. „Das hängt mit dem besonderen Wesen Ihrer Mutter zusammen, nicht wahr? Bitte, seien Sie mir nicht böse, daß ich davon rede, oder seien Sie es wenigstens erst nachher. Es liegt mir längst auf dem Herzen. Ist sie denn schon seit langem in dieser trübseligen Stimmung?“

„Ich habe sie eigentlich nie anders gekannt,“ antwortete Gertrud leise. „Es ist wohl nun einmal ihr Wesen so.“

„Schrecklich!“ rief er. „Was müssen Sie – – – ich meine, wie schwer muß es sein, eine solche immerwährende graue Laune zu ertragen!“

Sie lächelte trübe. „Das lernt sich,“ sagte sie. „Und dann – ich habe die Mutter doch herzlich lieb und im Innersten meint sie es auch nur gut mit mir. Freilich ist’s oft ein Jammer, aber ich glaube, jeder Mensch hat so seine Bestimmung, und in die muß er sich eben schicken, ob es süß oder sauer wird.“

„Das wäre Ihre Bestimmung?“ erwiderte er heftig. „Sie können doch nicht im Ernst meinen, Sie seien bestimmt, Ihre ganze Jugend hier zu vertrauern, um einer selbstquälerischen Laune Gesellschaft zu leisten? Wenn es noch dadurch besser würde! Nein, Fräulein Gertrud, so grausam kann der liebe Gott es doch nicht meinen! … Das ist eine Grille – eine schöne, fromme Vorstellung meinetwegen, aber keine wahre … Und wenn Sie einmal unbeirrt Ihr Herz fragen, weiß es Ihnen für Ihre Person, für so viel Anmut und Thätigkeit, so viel Kraft, glücklich zu sein und – zu beglücken, keine bessere Bestimmung zu sagen, Gertrud?“

„Nein!“ rief sie und entzog ihm ihre Hand, die er bei den letzten Worten ergriffen hatte. „Reden Sie nicht weiter so zu mir, denn ich fühle, daß es nicht das Richtige ist. – Wer sagt Ihnen denn, daß ich hier nichts helfen kann?“ fuhr sie fast trotzig fort, denn nun widersprach sie nicht bloß ihm, vielmehr auch einer Stimme in sich selbst, mit der sie in diesen Tagen oft genug gerungen hatte. „Wenn Sie das Wesen meiner Mutter erkannt haben, so werden Sie auch wissen, wie wenig ihr unglückseliges Wesen angethan ist, sie vor wirklichem Schaden und Kummer zu bewahren. Die Leute sind ihr nicht freiwillig zu Diensten wie anderen, fröhlicheren Menschen. Ein trauriges Gesicht macht keine Freunde, so viel habe ich auch schon vom Leben gelernt …. Ich aber gehöre zu ihr, und das habe ich aus dem Katechismus behalten, daß wir unseren Eltern dienen sollen und auch mit ihren Gebrechen Geduld haben …. Ich weiß, daß es mir gewiß keine Ruhe mehr lassen würde, wenn ich das einmal vergäße …. und ich habe die Moral wohl begriffen aus der Geschichte, vom ‚Blonden Eckbert‘, wissen Sie, worauf Sie mich besonders aufmerksam machten – von dem schönen Mädchen, das in allem Reichtum und allem Liebesglück nicht zur Ruhe kommt – immerfort folgen ihm die Klagen der beiden Wesen, die seiner bedurften und die es verlassen hat, um dem Glück nachzugehen …. und es waren doch nur ein Vogel und ein Hund. Aber Pflicht ist Pflicht ….“ Sie hielt einen Augenblick inne und sah ihm bittend ins Gesicht, beide Hände auf die Brust gedrückt. „Nein, bitte, reden Sie mir nicht weiter zu,“ bat sie. „Ich fühle, daß ich’s so halten muß, und dies Gefühl dürfen Sie mir nicht verwirren, es ist ja meine Kraft gewesen während all der trüben Jahre.“

„Ja, ja,“ ergab sich Hartwig Hoven darein, „ja, Fräulein Gertrud, ich will ja alles thun, was Sie wollen, weinen Sie nur nicht!“ Er fühlte sich völlig hilflos vor dieser umsichtigen Halsstarrigkeit, die sogar seine harmlosen Bemerkungen aus ihrem gemeinsamen Dichterstudium zu entscheidenden Beweisen umschmiedete und ihm den fertigen Korb schon vor die Thür hing, ehe er mit seiner Werbung herauskam. In verdrossenem Schweigen stellte er sich an ein Fenster und blickte in den Garten hinaus; sie stand am anderen Fenster und that desgleichen, ihre Blicke trafen sich möglicherweise auf demselben blühenden Rosenstrauch, aber mit dem Frühling zarter Seeleneinigkeit, der so hübsch zwischen ihnen geblüht hatte, schien es völlig aus.

Endlich wandte er sich halb um und fragte, ohne sie anzusehen: „Glauben Sie denn, daß diese trübselige Stimmung sich durch kein Zureden mindern ließe?“

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte, ohne ihn anzusehen: „Höchstens steigert es sie noch. Dazu genügt sogar das kleinste Trostwort. Es ist eben ihre Art. Und am Ende habe ich auch etwas davon in mir.“

„Fräulein Gertrud!“ rief er erschrocken, indem er sich ganz zu ihr wandte und sie strafend ansah.

„Nein, wirklich!“ erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. „Es ist mir vorhin wieder eingefallen. Als ich noch ein kleines Schulmädchen war, begegnete ich einmal auf der Straße einem armen Kinde, das so entsetzlich hinkte! Seitdem meinte ich, wenn mir der Fuß nur im geringsten wehthat, das sei der Anfang zu demselben Leiden, ich weinte und klagte, da half kein Zuspruch, und wenn man mich deshalb strafte, so versteckte ich mich und weinte im geheimen weiter. Es hat lange gedauert und ich habe meiner armen Mutter gewiß viel Kummer damit gemacht. Erst als ich in eine andere Klasse kam, fand sich eine Lehrerin, die mir meine dumme Einbildung vertrieb.“

„So?“ fragte Hartwig Hoven, indem er näher trat und sie gespannt betrachtete. „Wie hat sie das denn angestellt?“

„Auf eine ganz einfache Art,“ berichtete Gertrud weiter. „Sie stellte sich, als ob sie meine Meinung teilte, ja sie übertrieb sie noch und malte mir mit hochgezogenen Brauen aus, wie dies nur erst der Anfang sei: erst hinke man mit dem einen Fuß, dann mit dem andern, dann falle einem der Zopf ab – ich trug damals einen sehr langen, auf den ich lächerlich stolz war – und dann der Kopf; und das komme alles daher, weil ich meine Schuhriemen nicht ordentlich bände. Nun weiß ich nicht, wie das kam – aber mit dieser Uebertreibung muß sie wohl meine Zweifelsucht gereizt haben. Ach, dachte ich, wie soll das denn zugehen, daß so schlimme Dinge aus einer so kleinen Unordnung entstehen? Und zudem kannte ich doch manche große Mädchen, die die Schuhe nicht besser banden als ich und trotzdem kerngesund auf zwei Beinen herumsprangen, mit ihrem Kopf und einem Zopf, noch länger als der meine. So fing ich allmählich an, der Geschichte zu mißtrauen: erst zweifelte ich an der schlimmen Wirkung auf Kopf und Zopf, von da stieg der Zweifel zu den Füßen herunter, und schließlich nahm er mit der Uebertreibung auch meine eigene Aengstlichkeit mit. Bei alledem versäumte ich aber nicht, sehr sorgfältig auf meine Schuhe zu achten, und so schaffte mir die Lehrerin auf diesem Umwege auch noch ein Stückchen Unordnung ab.“

Gertrud hatte sich mit dieser kindischen Geschichte selber etwas erheitert, sie blickte freier und wagte zum Schluß sogar ein kleines bescheidenes Lachen. Hartwig Hoven sah ihr noch einen Augenblick tiefsinnig in das anmutige, leichtgerötete Gesicht, dann stimmte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0444.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2021)