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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Und sie liebkoste Susanne und bat, daß sie ihr nur glauben solle, daß sie immer ihre liebe einzige Freundin wäre und bleibe.

Dann ging sie hinein, den alten Herrn zu begrüßen. Er konnte nicht zu Tisch hinauf in den Speisesaal gehen. Man wollte deshalb im Salon essen. Das war auch sicher gemütlicher, weil das Diner doch den Charakter einer kleinen Abschieds- und Abschlußfeier haben sollte.

Im Salon brannte eine Lampe, denn Onkel Fritz konnte das elektrische Licht an seinen Augen nicht gut vertragen. Auf dem Tisch blühten in einem hohen Glase die Tuberosen und Marschall Niel, die Sabine ihm gegeben hatte. Die Fenster standen offen. Das gleichmäßige Geräusch der Tritte und Stimmen der Menschen, die die Brücke hinauf- und hinabschritten, klang herein, einer angenehm gedämpften Musik gleich. Draußen hatte sich die Abenddämmerung fast in Nacht gewandelt, aber weil man sie vom hellen Zimmer aus sah, erschien sie seltsam blau. Auf dem Wasser kroch eben mit blinkenden Lichtern ein Schiff vom Lido heran und legte sich vor die Landungsbrücke am Quai.

Der alte Herr saß im Lehnstuhl, nach dem Fenster zu.

Als Sabine eintrat, überwältigte sie ein Gefühl von grenzenloser Dankbarkeit und Verehrung. Sie eilte auf den Greis zu und, sich tief, tief herabbeugend, küßte sie ihm die Hand. – Eine Pause von Sekunden folgte. Sabine glaubte, man müßte ihr Herz klopfen hören. Kaum war die impulsive Handlung geschehen, so fürchtete die junge Frau, pathetisch, überspannt, lächerlich gewirkt und den alten Herrn erzürnt zu haben.

„Nicht, mein Kind – nicht …“ murmelte er und hielt Sabinens Finger zwischen den seinen.

„Was Sabine alles mit Onkel Fritz macht,“ dachte Susanne, „bei mir würde er schelten.“

„Sie sind sehr schön heute, Sabine,“ sagte der alte Herr dann.

Sie lächelte triumphierend. Ein anderer hatte ihr das auch heute gesagt, mit heißen Flüsterworten hatte er es ihr zugeraunt. Und heute zum erstenmal in ihrem Leben freute sie sich stolz ihrer Schönheit.

Endlich kam auch Achim. Die Entschuldigungen über seine Verspätung, das Fragen nach dem Befinden des alten Herrn halfen über die ersten fünf Minuten weg.

Bei Tisch beobachtete Susanne ihn. Was Sabine ihr noch vorenthielt, verriet vielleicht sein Wesen. Auch er war bleich, das hatte Susanne noch nie gesehen. Und auf seiner Stirn lag ein schwerer Ernst, und wenn er lachte, lachten seine Augen nicht mit.

Vielleicht bilde ich mir auch alles nur ein, dachte Susanne. Aber der hoffnungsvolle Glaube festigte sich doch in ihr, daß Achim wie ein Mann das endende und klärende Wort des Abschieds gesprochen habe. Sie wollte so gern an ihn glauben, an seine Festigkeit und Charaktergröße.

Der alte Herr hatte Heidsieck kalt stellen lassen und man stieß oft zusammen an. Sabine ging ganz in dem Wunsch auf, den Greis fröhlich zu stimmen, ihn angenehm zu unterhalten, ihm Dankbarkeit zu zeigen. Sie wandte kaum einen Blick von ihm, in bezaubernder, töchterlicher Fürsorge. Ihre lachenden Augen suchten seinen Blick und ihr ganzes Wesen entfaltete sich in schmeichelnder Weiblichkeit.

Sie vermeiden es, einander anzusehen, stellte Susanne bei sich fest, es ist gewiß, sie haben den großen, den einzigen Entschluß gefaßt.

Und mit ihren klaren Augen sah sie Achim liebevoll an. Er hatte vielleicht gelitten. Wenn sie doch nur wüßte, wie sie ihm tröstend wohlthun könnte!

Draußen grollte der Donner. Gerade trug schon der Kellner die Früchte und die leeren Flaschen fort.

Onkel Fritz stand auf. „Ich ziehe mich zurück. Bitte – lieber Herr von Körlegg – Sie nehmen noch den Kaffee und Ihre Cigarette bei den Damen … Und leben Sie wohl! Haben Sie Dank für alles, was Ihre Gesellschaft den Damen und mir gegeben hat. Darf ich sagen: Auf Wiedersehen? Sie wissen, im Winter in Berlin, Lützowufer. Im Sommer als Vagabund bei der Familie herum. Vielleicht in Zukunft auch einmal in Mühlau – wenn Sabine mich da haben will.“

Bewegt drückte Achim die Hand des alten Herrn.

„Wenn ich Ihnen ein wenig lieb geworden bin – so machen Sie mich stolz. Ich bin es, der zu danken hat – ich! Und gewiß, Herr Osterroth – das Leben führt uns wieder zusammen. Bleiben Sie mir immer so gütig gesonnen!“ sprach Achim.

Onkel Fritz lächelte. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, flüchtig streifte sein Blick Susanne. Doch er schwieg, nickte noch einmal und ging.

Es donnerte lauter. Gleich danach blitzte es, und polternd krachte es hinterher.

„Das kommt von allen Seiten. Wollen wir nicht die Fenster schließen?“ meinte Susanne. Sie war ein wenig ängstlich beim Gewitter und schämte sich nun ihrer Furcht vor Achim.

„O nein, das giebt ein prachtvolles Schauspiel,“ sagte er.

Wenn Sabine doch daran denken wollte, daß ich so bange vor dem Blitzen bin, dachte sie, früher hatte sie doch selbst Furcht.

Aber Sabine dachte an nichts als an ihn, der jetzt neben ihr am Fenster stand, gleich ihr die Hände auf dem kleinen Gitter, das es von außen schützte.

Im wilden Zickzack flog ein Blitz nach dem andern vom Himmel herab, auf Sekunden das wildflutende Wasser und den steilen Kirchturm von San Giorgio Maggiore überhellend.

Draußen war alles Leben wie fortgefegt, leer lag der Quai, und die ersten Regenschauer klatschten auf die Steine nieder. Der Donner rollte unaufhörlich in allen Tonstärken, die Nähe und Ferne ihm gab. Entzückt starrte Sabine in das wilde Schauspiel. Susanne aber lief zu dem alten Herrn hinein und, indem sie die Thür rasch öffnete und schloß, entstand ein Windstoß, der die Lampe traf, sie flammte hoch auf und verlosch.

Achim legte seinen Arm um das Weib. Stumm standen sie, Wange an Wange, und sahen dem tobenden Wetter zu.

Das war ihre Abschiedsstunde. Das große Schauspiel schien dafür die rechte Weihe.

Zu sagen hatten sie sich nichts mehr.

Achim fragte sich: Ist das eine Vorbedeutung? Wird so mein ganzes künftiges Leben sein – Wetter und Sturm?

Sabine aber dachte: Nun schreckt mich nichts mehr, nichts in der Natur, nichts im Leben, wenn ich neben ihm stehe. Und sie preßte ihre Wange fester an die seine.

Drinnen ließ Susanne sich liebevoll vom alten Herrn wegen ihrer Furcht ausschelten. Da nun der Donner in ferneren Himmelsräumen zu vergrollen schien, in Susannen auch der Wunsch übermächtig war, die letzten Minuten von Achims Anwesenheit noch zu genießen, so entschloß sie sich, wieder in den Salon zurückzukehren.

Und da sah sie, im dunklen Raum stehend, vor dem Fenster, im Schein, der von der Laterne draußen hereinfiel, die Silhouette von zwei Menschen, die, Wange an Wange, unbeweglich verharrten. „O mein Gott …,“ sagte sie.

Die beiden hörten den Ausruf und lösten sich voneinander.

Sabine wandte flüchtig das Haupt und bemerkte Susanne, die da wie versteinert stand. Aber ihr war nicht nach Erklärungen und Erörterungen zu Mute.

Sie atmete tief auf. Die Minute des Scheidens war gekommen. Stumm reichte sie Achim die Hand, mit großem, tiefem Blick noch einmal ihm in die Augen schauend.

Sie wechselten einen Händedruck, so fest, wie man ihn giebt zu einem ewigen Bündnis, oder zu einem ewigen Abschied.

Dann ging Sabine in ihr Zimmer. Die Thür fiel zu. Der kurze dumpfe Ton schien Susanne zu erschrecken oder zu erwecken. Sie machte eine Bewegung und that einen Schritt vorwärts. So kam sie in den Lichtstreifen, der zum Fenster hereindrang. Gerade zuckte auch draußen wieder ein Blitz nieder und überflammte ihre Gestalt mit bläulichem Schein.

Achim sah es: diese klaren Augen schauten auf ihn mit einem unverhohlenen Ausdruck des Entsetzens.

Er trat an sie heran. „Denken Sie nicht klein von mir,“ murmelte er, „die Liebe war stärker als alles. Die Leidenschaft sprach zu laut.“

„Hat denn die die lauteste Stimme?“ fragte Susanne.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0454.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)