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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Ihm war schrecklich zu Mute, so, als müßte er sich schämen.

Das war ein schlimmes Gefühl für einen, der eben über sein Schicksal entschieden hat.

„Sie sind zu jung, Fräulein Susanne,“ sagte er finster, „um das beurteilen zu können.“

Aber anstatt einer Antwort, sprach sie vor sich hin: „Und ich habe so an ihn geglaubt! Ich habe so gewiß geglaubt, daß er ein ganzer Mann wäre!“ Sie fing an zu weinen.

Er stand erschüttert – wie geschlagen! Diese naiven Worte trafen ihn wie eine furchtbare Anklage.

Er nahm sich zusammen, er wappnete sich mit Bitterkeit.

„Männer sind nicht so, wie junge Mädchen sie sich denken,“ sprach er; „auch ich bin nur ein Mensch, und Mitleid und Leidenschaft haben schon Größere als mich aus der Bahn gerissen.“

Sie schwieg.

„Soll ich so von Ihnen scheiden?“ hob er an und fand sich selbst von plötzlicher Weichheit überrascht, „so ohne ein gutes, treues Wort? Soll ich denken, daß Sie mich richten, vielleicht sogar verachten? Glauben Sie, daß das meine Seele leichter macht?“

Sie griff nach seiner Hand. „Nein, nein,“ rief sie weinend, „ich richte Sie ja nicht! Da sei Gott vor! Wenn das Unfaßliche denn wahr werden soll – – möchten Sie glücklich werden, so ganz unmenschlich glücklich, wie ich – – wie Sie – ich meine …“

Sie konnte nicht weiter. „Adieu – adieu,“ stammelte sie.

Er küßte ihr die Hand immer wieder, und vor schmerzlicher Bewegung fand auch er kein Wort mehr, kein einziges.

Dann war er fort.

Susanne stand noch lange und weinte. Später klopfte sie an Sabinens Thür. Sie war verschlossen. Sabine antwortete nicht. – Achim fuhr gen Norden. Es war Nacht. Er lag in seinem Schlafcoupé und dämmerte zwischen Wachen und Träumen hin. So, nur mechanisch an dem Treiben der Reise teilnehmend, war er gestern von Venedig nach Verona gekommen – so fuhr er nun über den Brenner durch die Nacht. Er bemerkte kaum, wie die Zeit verrann. Er hatte kein Maß für sie, und sie wurde ihm auch nicht lang.

Er gedachte, so ohne Aufenthalt weiter zu reisen, „wie ein Paket,“ sagte er bei sich selbst. Ein unbeschreibliches Bedürfnis nach Ruhe trieb ihn, sich abzuhetzen, um nach Mühlau zu kommen, einen Tag vor dem Ende seines Urlaubes, um einen ganzen Tag lang sich zu verstecken in seiner Wohnung, in seinem Bett auszuschlafen.

Er brauchte keine besonderen Anstrengungen zu machen, um weder zurück noch vorwärts zu denken. Zum ersten Male in seinem Leben waren seine Nerven so abgespannt, daß er nichts fühlte wie eine totale Stille in sich – so, als ginge ihn die Welt für zweimal vierundzwanzig Stunden gar nichts an.

Die rauhen Herbstlüfte, die ihn in Deutschland empfingen, machten ihn frösteln. Als er in Mühlau ankam, peitschte ein heftiger Regen, von Ostwind getrieben, ihm entgegen.

Er kam sich wie erlöst und in den Hafen eingelaufen vor, als er in seine erleuchtete und ordentliche Wohnung trat.

Seine Wirtin hatte, seit sie das ihn anzeigende Telegramm erhalten, nichts gethan wie geputzt und gescheuert. Sein Bursche grinste vor Freude und Dienstbeflissenheit. Das ganze war doch so etwas wie eine Häuslichkeit.

Diese Nacht schlief er wie ein Toter, und er schlief bis in den Vormittag hinein.

Als er aufwachte, wußte er gar nicht genau, wo er war. Kein Laut ringsum. Und alles so dunkel.

Vor seinen Fenstern waren Holzläden, nach altmodischer Art, von draußen vorgeknebelt. In jedem von ihnen hatte der Zimmermann eine kleine Kleeblattfigur ausgeschnitten. Die ließen nun in drei runden Lichtlöchelchen einen einfachen, dünnen Strahl der Morgensonne herein. Staubfädchen tanzten darin. Achim sah ihnen lange zu.

Er klingelte. Gleich darauf polterte und klappte es draußen vor den Fenstern; der Bursche schlug da die Laden zurück.

Dann kam er herein und meldete, was Achim schon vom Bett aus sah, „daß das Wetter wieder fein sei“. Dabei setzte er den Morgenthee auf einen Stuhl vor seines Herrn Bett.

„Briefe?“

„Zu Befehl!“

Achim griff hastig zu. Nur eine Jagdeinladung, eine Geschäftsempfehlung und ein Brief von einem Kameraden aus seinem alten Regiment. Es war ja auch ganz unmöglich, daß schon ein Brief von Sabine dabei sein konnte.

Er nahm aus seiner Brieftasche, die auf seinem Nachttisch lag, ihr Bild.

Und in der einsamen Stille seines Zimmers stieg helles Rot in seine Stirn. Ihr Zauber wirkte wieder. Schauernd erinnerte er sich der Stunde, da ihr Mund an dem seinen gehangen hatte. Das Verlangen nach ihr rann durch alle seine Nerven.

Er stand auf. Er entschloß sich, schon heute den Kampf aufzunehmen.

Sein Bursche erinnerte ihn daran, daß Sonntag sei. Desto besser. Da konnte er hoffen, Herrn Reinald Deuben daheim zu treffen.

Er freute sich des Sonnenscheins draußen, obschon es der herbe Schein der Herbstsonne war, die sich vergeblich bemühte, die Erde zu erwärmen, die noch fröstelte von all dem Sturm und Regen der letzten Tage.

Er befahl einen Wagen. Er fand es nicht angemessen, zu Pferde anzukommen.

In Mühlau einen Wagen zu erhalten, wenn man ihn nicht einen Tag vorher bestellte, war nicht so einfach. Der Wirt zum „Kronprinzen“ ließ sagen, daß der eine Knecht zur Kirche sei; das Gespann des Hotelomnibus könne er nicht hergeben; der Krümperwagen sei auch schon weg, den hätten Oberamtmanns; wenn Herr von Körlegg bis zwölf Uhr warten wollten, dann könnten Sie den kleinen Jagdwagen mit einem Pferde haben.

Achim fuhr seinem Burschen mehrmals ungeduldig mit Zwischenbemerkungen in seine lange Bestellung hinein. Warum er nicht gleich zum Wirt der „Stadt Berlin“ gegangen sei, der habe doch auch Fuhrwerk. Und er sei und bleibe ein Mensch ohne eigene Initiative!

Dann fiel ihm etwas auf: Oberamtmanns hätten den Krümperwagen? Wozu? Wohin?

„Ist bei Küps schon auf?“ fragte er nach kurzem Besinnen.

„Eben noch nich. Aber nu woll,“ antwortete der Bursche, „es schlug grade Glock Elf, als ich in die Hausthür kam. Und Küps macht immer gleich auf, wenn die Predigt aus ist.“

Achim griff nach seinem Portemonnaie. „Hier, Stören, holen Sie gleich bei Küps alles für mich zum Abendbrot. Und für sich können Sie ein Dutzend Cigarren mitbringen – Sie wissen – von Ihrer Sorte. Und dann lassen Sie sich von Küps erzählen, wohin Oberamtmanns gefahren sind. Fangen Sie das aber ’n bißchen helle an – verstanden?“

„Herr Leutnant können sich ganz auf mir verlassen,“ sagte Stören und trat ab.

Achim verbrachte eine unruhvolle Viertelstunde.

Jede Verzögerung, welche die Ausführung seines Vorsatzes erlitt, schien ihm von übler Vorbedeutung.

Es giebt Ereignisse, die keinen Aufenthalt vertragen, die unaufhaltsam vorwärts stürmen müssen, die in atemloser Jagd zu verfolgen sind. Jedes Besinnen – jedes Stillstehen hemmt vielleicht für immer ihren Vollzug.

Endlich kam der Bursche wieder. „Da war bloß gekochter Schinken, Herr Leutnant,“ sagte er.

„Mensch,“ sprach Achim verzweifelnd, „ich will ja wissen, wohin der Oberamtmann Deuben gefahren ist.“

„Ach – bloß nach Heinersdorf, nach seinen Sohn,“ berichtete Stören, „sie, was die Oberamtmännin ist, auch. Herr Hauptmann von Hallendorf ist auch mitgefahren. Der Herr Leutnant Bläser und noch zwei Herren auch. Da wäre Geburtstag auf Heinersdorf, ich glaube, der Braut ihrer, sagte Küps, und den feiert der Bräutigam mit ’n großen Frühstück. Küps sagt, der Oberamtmann wäre immer nich so recht, er hätt’ es sehr in den Füßen. Darum ist die Festlichkeit nich abends. Abends soll noch auf Wendessen was los sein.“

„Es ist gut, und sagen Sie im ‚Kronprinzen‘, daß ich keinen Wagen brauche.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0455.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2021)