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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Weil Martha Voigtstedts Geburtstag von der Verwandtschaft und Freundschaft gefeiert wurde, konnte er nicht daran denken, lebenentscheidende Fragen zu lösen. Es war zum lachen!

Er kam in eine bittere ärgerliche Stimmung. Jede Stunde schien ihm so unnütz verlebt, die er nun nicht in kämpfender Erregung verbringen durfte.

Zum stillen Warten war sein Gemüt nicht aufgelegt.

Plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß das schlimm, sehr schlimm sei. Ein Gefühl, das fortan doch sein ganzes Leben ausfüllen sollte, war mit so viel Ruhelosigkeit verbunden, daß er immerfort eine Sensation brauchte?!

Nur nicht denken!

Er ging aus. Seine Wohnung, die ihn gestern abend wie ein Asyl umfangen hatte, war ihm unerträglich.

Auf der Straße traf er zwei Kameraden und die Kommandeuse. „Schon zurück aus Lugano?“

Für Mühlau war er in Lugano gewesen.

„Na Sie haben sich wohl himmlisch amüsiert!“

„Was sagen Sie denn, daß Lauenstein sich inzwischen mit Cäcilie von Müller verlobt hat?“

„Sie sind aber braun gebrannt, Körlegg, das steht Ihnen vorzüglich.“

„Gnädige Frau sind zu gütig.“

„Wir wollen heut’ nachmittag noch eine Tennispartie riskieren im Kasinogarten, ’n bißchen kalt ist es ja. Kommen Sie auch?“

„Jedenfalls,“ sagte Achim, „auf Wiedersehen also!“

„Auf Wiedersehen!“

Er kam an das Berliner Thor. Nur keine Bekannten mehr, dachte er.

Ein besonderes Gefühl trieb ihn, nach dem Bürgerpark zu gehen, wo er damals Sabine zum erstenmal wieder gesprochen hatte.

Die dürftige Anlage sah noch kahler aus als im Frühling.

Die um ihr Dasein mühselig im Sande kämpfenden Büsche hatten ihr weniges Laub widerstandslos fast ganz dem ersten Herbstregen preisgeben müssen. Unter den Akaziensträuchern lag es schon gelb von den kleinen Blättchen. Zäher und grün saß das Laub der Syringen an den Büschen. Jetzt schien die Sonne. Oben am blauen Himmel jagten vereinzelte schneeweiße Wolken einher. Hier unten war es fast windstill.

Der weiße Sand war wirklich warm. Man fühlte es angenehm an den Füßen. Die Bank auf dem runden Mittelplatz stand im vollen Sonnenschein.

Achim setzte sich dahin. Gedankenlos sah er zu, wie aus den Schornsteinen der roten, niederen Dächer der Hinterstraße Rauch aufwölkte.

Einmal ging eine Bürgerfamilie an ihm vorbei. Der Vater im Bratenrock und Cylinder, ein Töchterchen an der Hand. Zu beiden Seiten von deren Kindergesichtchen hingen so plump und sonderbar Korallenohrringe. Die Mutter in einem neuen Regenmantel und einem Capothut, auf dem ein steilragendes Schmelzbouquet mit allerlei blinkenden, baumelnden Pailetten stand, hatte an jeder Hand einen Knaben. Sie trugen Marineanzüge und auf ihren Mützenbändern stand zu lesen: S. M. S. Moltke.

Achim lächelte wehmütig. Im Glanz und Stolz ihrer besten Sonntagsgarderobe, in der Ordnung und Sauberkeit ihrer Erscheinung zogen sie vorbei, Befriedigung leuchtete von ihren Gesichtern. Das ganze Glück dieser Leute bestand vielleicht in dem Bewußtsein, gute, bezahlte Kleider ihren Nachbarn und Bekannten vorzuführen.

Der Mann grüßte. Nun erst sah Achim, daß es der Buchbinder war, bei dem er zuweilen arbeiten ließ und sein Schreibpapier kaufte. Er grüßte mit freundschaftlichem Wohlwollen wieder. Ihm war, als müsse er dem Mann zeigen: Du lebst in einfachen, gesunden, glücklichen Verhältnissen. Ich beneide dich. Ich achte dich.

Lange blickte er ihnen nach. So sah er, daß diese Bürgerfamilie eine Begegnung hatte. Sie sprachen mit einem jungen Mädchen und zwei Kindern. Die Buchbinderfrau gab den Kindern die Hand.

Sie waren weiß gekleidet. Das Mädchen trug einen großen Hut mit Rüschen und Volants und ein weißes Jäckchen. Und der Junge einen knappen, weißen, rauhhaarigen Paletot.

So kleidete nur Eine in der Stadt ihre Kinder. – –

Nun lösten sich die Gruppen voneinander. Das Mädchen und die Kinder kamen auf die Anlage zu.

Achim sah ihre Gesichter.

Es waren Leo und Milly. Sabinens Kinder!

Diese Kinder, an die er nicht mehr zu denken gewagt hatte, seit Tagen. – –

Achim blieb auf der Bank sitzen und wartete auf ihr Herannahen. Er fühlte, daß er keine Kraft habe, aufzustehen.

Ich werde mit ihnen sprechen, dachte er.

Sie kamen näher. Mit ihnen war Lisbeth, die an keinem Mann in Uniform vorbeigehen konnte, ohne ihm einen koketten Blick zuzuwerfen.

Wie schön sie waren! Milly mit ihrem weißen Gesicht und übergroßen dunklen Augen sah ihrer Mutter so ähnlich. Es war unerhört, wie ähnlich! Sie schien ein bezauberndes kleines Ebenbild der schönen Frau. Wie lieb ihr Gesichtchen aus dem Rahmen von weißem Stoffgefältel heraussah!

Aber Leo – – hatte Achim ihn früher nie so genau angesehen? Hatte der Knabe sich verändert? Das waren nicht Sabinens Züge, das war ein fremdes Gesicht. Die Züge Eines, den Achim auch gekannt! Das Gesicht Eines, den er tot hatte auf dem Rasen liegen sehen. – – –

„Guten Tag, Kinder,“ sagte er mit Anstrengung, „wollt ihr mir nicht ein Händchen geben? Guten Tag, schönes Fräulein,“ setzte er mit einem Blick auf Lisbeth hinzu.

Nun war Lisbeth überzeugt, daß die Anrede ihr gälte. Wohlgefällig lächelnd blieb sie stehen.

„Gieb doch die Hand, Milly! Leo, man nimmt die Mütze ab. Du siehst doch, daß der Herr ein Offizier ist!“

„Onkel Benno ist auch Leutnant,“ sagte Milly und guckte Achim an.

„Ich kenne deinen Onkel Benno,“ erzählte Achim.

„Nee – so was! Komm, Millychen, gieb’s Händchen,“ mahnte Lisbeth.

Sie schob Milly heran. Das Kind berührte Achims Knie.

Er legte seine Rechte auf die Schulter der Kleinen, beugte sein Haupt und sah tief, tief in die großen, dunklen Kinderaugen, die ihn anstaunten.

Seine Stirn war feucht.

Er wollte das süße, erstaunte Kindergesicht küssen.

Er wagte es nicht. Er konnte es nicht.

Es war, als ob eine Gewalt, die er nicht sah, die er aber mit lähmendem Schreck fühlte, ihn davon abhielt.

Und es war doch Sabinens Kind, es war Sabinens schönes, unergründliches Angesicht. Nur mit dem Rätselzauber der Kinderunschuld übergossen.

„Liebe Milly, süßes Kind,“ flüsterte er. Und er zwang es sich ab und der Trotz in ihm wallte auf. Er wollte!

Seine Lippen berührten die Stirn des Kindes. Mit kurzem, stürmischem Druck zog er das kleine Körperchen an sich.

Da ängstigte Milly sich, riß sich los und klammerte sich an das Kleid des Mädchens.

„Und du, Leo?“ fragte Achim mit bebender Stimme, „willst du mir nicht Guten Tag sagen? Ich habe deine Mama gesehen, sie läßt dich grüßen.“

„Ach Mama!“ sagte der Knabe mit beglücktem Lächeln. „Wo hast du sie gesehen, Herr Leutnant? Bringt sie mir auch wirklich eine Festung und Soldaten mit?“

Er kam heran. Er war ganz zutraulich und neugierig.

Achim hielt ihm die Hand hin. Ohne Zögern legte der Knabe seine kleine, sonnverbrannte Hand in die große des Mannes.

Sie sahen einander an. Die Blicke des Mannes durchforschten das Kindergesicht.

Und unter diesen fragenden, forschenden Blicken wandelte sich ihm das Knabenangesicht.

Es alterte rasch. Es wurde das Antlitz eines Jünglings, eines Mannes. Und es glich zum Entsetzen dem des Toten! Und der Mund lächelte nicht mehr kindlich und neugierig, sondern er sprach furchtbare Worte: „Wie – du hast meinen Vater

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0456.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)