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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

erschossen und hast doch meine Mutter geküßt? Und du hast dich in mein Herz gestohlen, als ein Dieb und ein Betrüger? Als meinen Vater hab’ ich dich gekannt und geliebt, und du bist es, der meinen eigenen, wirklichen Vater getötet hat?! Du hast mich, als ich ein unwissendes Kind war, auf deinen Knien gehalten. Mich, dessen Erzeuger deine Kugel traf?! Und du hattest die Stirn, am selben Tisch mit mir dein Brot zu essen! Den Mut, meine Mutter zu lieben! Die Gewissenlosigkeit, uns zu lehren, daß wir dich ehren sollen! Du hast eine Familie mit uns gegründet – du – zwischen dem und uns ein Grab liegt! Ich hätte dir verzeihen können, denn ich weiß, daß du kein Mörder bist und selbst gelitten hast, mehr vielleicht als wir. Aber da du den Platz einnahmst, den sein Tod frei gemacht, den Platz neben meiner Mutter, den in unserm Herzen – dafür muß ich dich hassen, verachten, mich rächen!“

Waren es nur Sekunden, die verrannen? Nur ein paar Herzschläge lang rückte die Zeit? – –

Keuchend, bleich – entsetzt saß der Mann und starrte dem Knaben in das Antlitz.

Und dennoch – dennoch wollte er’s von sich erringen. – –

Er neigte sein Haupt. Seine Lippen näherten sich der Kinderstirne. – –

Da äffte ihn ein Spuk. Und über dem frischen, jungen Knabenangesicht sah er ein anderes, fahles, starres! Und aus hohlen Augen sah ihn Jener an, der durch ihn gefallen. Und eine fürchterliche Stimme donnerte ihn an: „Niemals!“

Er sank zurück, in sich zusammen. Seine Hand machte eine abwehrende Bewegung, dann legte er sie vor seine Augen.

Das Mädchen, erschreckt über dies Gebahren und die plötzliche Todesblässe des Mannes, riß die Kinder fort. Die Kleine schrie.

Lange saß der Mann noch. Hoch über ihm zogen lustig schneeweiße Wolken am blauen Himmel einher. Die Oktobersonne spielte in dem kahlen Gezweig. Lässig trieb ein Lüftchen wirbelnd gelbe Blätter über den Boden. Fern auf einer durchsichtigen Pappelkrone lärmte ein Rabenvolk.

Und als Achim aufstand, da wußte er es: es war zu Ende. Zwischen ihm und Sabine konnte es keine Vereinigung geben!

Der wilde Traum war aus. Er war erwacht, und er sah das Grab wieder, über das hinweg er dem Weibe die Hand nicht reichen durfte. –

Wie er diesen Tag verbrachte, wußte Achim sich später niemals in die Erinnerung zurückzurufen.

Am Abend saß er an seinem Schreibtisch. Auf seiner Stirn lag hoher Ernst, sein Mund war fest geschlossen. Es war das Antlitz eines Mannes, der sich aus heißen Kämpfen zu einem eisernen, unbeugsamen Entschluß emporgerungen.

Er schrieb:

  „Teure Sabine!

Als wir vor einigen Tagen schieden, verließ ich Dich, um die Entscheidung über unser Leben herbeizuführen.

Schneller und anders als ich dachte, ist diese Entscheidung gefallen. Und noch zur rechten Zeit! In allem Schmerz, den ich Dir bereiten muß und den ich selber leide, müssen wir das festhalten: Gottlob noch zur rechten Zeit!

Meine liebe, teure Sabine! Es ist eine Offenbarung über mich gekommen. Das Schicksal hat mir unschuldige, unbefangene Sendboten geschickt, holde Engel, die mich mit großen Augen anstaunten, Deine Kinder, Sabine! Deine eigenen Kinder! Die auch die des Toten sind! Und als ich ihnen in die Augen sah, als ich sie küssen wollte auf ihre reinen, jungen Stirnen, mit dem Kuß des künftigen Vaters, mit der Liebe eines Mannes, der ihrer Mutter Gatte werden soll – da, Sabine – da geschah etwas Furchtbares. Eine Hallucination schreckte mich. Der tote Mann schien sich hinter diesen seinen Kindern aufzurecken und mir den Kuß zu verbieten – mir jede Zugehörigkeit zu verweigern. Laß mich schweigen über das, was in mir vorging!

Aber ich habe erkannt, daß es Dinge giebt, über die auch das kühnste Gefühl nicht hinweg kann und auch nicht hinweg darf. Gewissen kann ich es nicht nennen – denn der Tod Deines Mannes wird mir vor Gott und Menschen nicht als Schuld angerechnet. Moral kann ich es nicht nennen – denn kein sündiges Verlangen war es, was uns zu einander zog. Aber dennoch … ich darf nicht Dein Gatte, nicht Deiner Kinder Vater werden.

Immer würde die Vergangenheit wie ein Gespenst neben uns sein. Und Dein Sohn würde uns richten, wenn er einst ein Mann geworden ist. Wenn Verstandesschlüsse, wenn Leidenschaft Dir und mir auch vielleicht das Recht gäben, uns trotz alledem zu verbinden: Deine Kinder dürfen wir nicht solchen Konflikten aussetzen.

Diese meine Erkenntnis ist unumstößlich!

Teure Sabine, für dies herbe, herbe Schicksal sind wir nicht verantwortlich. Und trotzdem stehe ich vor Dir als Einer, der Dich um Verzeihung anflehen muß. Ich hätte die Kraft und die Selbstüberwindung haben sollen, Dich niemals wiederzusehen, nach jenem ersten Augenblick, der mich ahnen ließ, daß ich Dir teuer bin.

Aus tiefster Seele bereue ich! Mehr kann ich Dir nicht sagen. Es ist ein hartes Wort für einen Mann.

Und in großer Sorge denke ich Deiner! Erscheine ich Dir als allzu schuldig? Vielleicht gar als ein Mutloser? Wirst Du leiden? Nein, nein – leide nicht zu sehr! Besinne Dich. Versuche gleich mir, die Lage nicht allein, sondern auch unser Gefühl mit klarem Blick zu prüfen. Zog uns wirklich eine große, ewige, unsterbliche Liebe zusammen? War es nicht vielleicht nur das wilde Feuer einer Leidenschaft? War es wirklich das Leben selbst? War es nicht vielleicht nur ein Traum von Sonne und Glück, wie ihn jene leicht träumen, die im Schatten stehen?

Man sagt immer, eine wahre Liebe, eine echte, elementare, aus geheimster seelischer Notwendigkeit geborene, die sei so stark, daß sie selbst den Tod überwindet!

Ich zweifle an der meinen, da ich sie scheitern sah. Oder ist das, was zwischen uns steht, so geartet, daß selbst die Kraft einer wahren Liebe daran zerschellen muß?

So sehe ich mich von Fragen und Qual umdrängt. Ich kann sie nicht lösen. Ich muß sie begraben.

Alles, was heiße Wünsche, was tiefe Dankbarkeit, was unauslöschliche Verehrung für Dich von Gott an Frieden und an Glück erflehen kann, ersehne ich für Dich. Denke an Deine Kinder. Lebe für sie!

Und wenn ich es wagen darf, Dich zu bitten, meiner zu gedenken: vergiß nicht ganz den Mann, der sich still und entsagend aus Deinem Leben schleichen muß! Denke seiner ohne Groll.

Ich küsse Deine lieben Hände in Ehrfurcht und Trauer.

Lebewohl.   Achim.“


10.

Es war in Rom und vier Tage später. Sabine stand vor ihrem Spiegel und kämmte ihr Haar.

Im Zimmer war lachendes Licht. Die Sonne kam herein und durchwärmte es und füllte es ganz mit Helligkeit. Das große, weißverhangene Bett stand mitten darin. Auf dem Tisch blühten in einem Glase blasse Herbstrosen. Auf dem Sofa lag ein buntseidener Shawl. Auf der Kommode stand eine große Terracottanachahmung des Sterbenden Fechters vom Kapitol; gestern hatte Onkel Fritz ihn für Sabine gekauft.

Und Sabinens Gesicht leuchtete vor Schönheit und Lebensfreude. Nur aus Gewohnheit stand sie vor dem Spiegel, weil man da beim Haarordnen nun einmal zu stehen pflegt. Sie sah sich gar nicht. Ihre Gedanken waren weit in der Welt draußen, weit über den Alpen. Bei ihm – bei ihm!

Heute kommt ein Brief. Der erste! Sie wußte es ganz genau. Sie hatte sich seine Heimreise, seine ersten Stunden daheim, dann die Postverbindung genau ausgerechnet. Daß er ihr gleich am ersten Abend schreiben würde, war gewiß. Ja, heute kommt ein Brief. Und er kam auch. Susanne brachte ihn.

„Hier ist eine Postkarte von deiner Mama. Den Kindern geht es gut. Und den Geburtstag von Reinalds Braut sollst du nicht vergessen. Natürlich ist der schon vergessen. Der war ja am Sonntag. Deine Mama hätte früher daran erinnern sollen,“ sagte Susanne.

„Sonst nichts?“

„Doch. Ein Brief aus Mühlau,“ sprach Susanne mit gekünstelter Gleichgültigkeit. Sie hatte gesehen: es war ein A. v. K.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0458.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)