Seite:Die Gartenlaube (1899) 0459.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

hinten auf dem Couvert. Aber sie schwiegen über den Namen und den Mann. Seit jenem Abend in Venedig war ein stiller Trotz zwischen ihnen.

„Gieb her. Du weißt recht gut, von wem er kommt.“

„Ja leider!“

Sabine riß ihr den Brief aus der Hand. Der Umschlag flog zur Erde – mit bebenden Fingern – ein seliges Lächeln auf den Lippen, entfaltete sie die Bogen.

Und dann ein Laut – –

„Mein Gott – was ist das? Was hast du?“ rief Susanne und sah der Andern entsetzt zu.

Die stand da, fahl, zitternd, vornübergebeugt, und las und las – – Und dann taumelte sie und Susanne sprang herzu und brachte sie in die Sofaecke. Da saß sie – vor Frost bebend – mit blöden Blicken und murmelte: „Aus – aus – aus.“

„Sabine – liebe, liebe Sabine! Was hast du? Fasse dich doch! Was ist passiert?“

Sie weinte beinahe vor Angst.

„Lies!“ sagte Sabine heiser.

Susanne nahm den Brief aus den kalten Fingern, die ihn mechanisch umklammert hielten. Sie las.

Auch aus ihren Wangen wich die frische Farbe. Weinend kniete sie neben der Unglücklichen nieder.

Sie wußte wohl: da war kein Trost, keine Hilfe, keine Hoffnung! Aber in diesem Augenblick hätte sie ihr die Möglichkeit, doch noch jenes unerreichbare Glück zu erlangen, herbeizaubern mögen. Vom Himmel oder aus der Hölle – nur wiederkommen sollte es.

Wie konnte Sabine noch weiterleben, wenn sie ihn verloren hatte! Sie würde sterben, den Verstand verlieren, sich ein Leid anthun!

In dem Kopfe des jungen Mädchens entstand eine heillose Angst und Verwirrung. Sie umklammerte Sabine, bedeckte ihre Wangen mit Küssen, flehte sie an, sich zu fassen.

„Mein Leben wollte ich ja dafür hingeben, um ihn dir zu erkaufen. Aber es ist ja wahr – es kann ja nicht sein – es wäre gegen Natur und Menschlichkeit gewesen – liebe, süße Sabine – – “

Mit einem Mal fuhr Sabine auf. Sie reckte sich empor. Ihre Augen flammten.

Und dreimal sagte sie es: „Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“

Das letzte Mal klang es wie ein fürchterlicher Schrei.

Susanne entsetzte sich. Sie fürchtete sich vor dem blassen Weib, das da stand, ein dämonisches Licht in den Augen …

Ihr junges Herz wußte noch nicht, was dieser Schrei des Liebeshasses bedeutete.

Sie wußte nicht, daß er vielleicht nichts war als ein Verzweiflungsruf der aufs höchste gesteigerten Liebe; vielleicht nur die blinde Abwehr einer stolzen Seele gegen das Joch einer hoffnungslosen Leidenschaft.

„Sabine!“ rief sie jammernd, „wie kannst du!“

Mit heftigen Schritten ging die andere hin und her, einer gefangenen Tigerin gleich, schnell, lautlos, rastlos, mit funkelnden Augen.

„Denke doch auch an ihn!“ flehte Susanne, „gewiß, er leidet.“

„Er leidet?!“ rief Sabine voll Hohn und blieb stehen. „Hast du nicht gelesen: ‚Zog uns wirklich große, ewige Liebe zusammen? War es nicht bloß Leidenschaft? Nicht bloß ein Traum?‘ – Weißt du, was das heißt? O, ich will es dir sagen! So fragt er, um die schnöde Wahrheit in zarterer Form zu sagen. So fragt er, mich mit hineinbeziehend, weil er nicht sagen kann: ,Ich, ich der Mann, ich habe nur eine flüchtige Leidenschaft für dich empfunden, nur meine Sinne waren entbrannt, nicht mein Herz‘. Und nun ist er erwacht, fern von mir sogleich erwacht! Sein Gefühl war bloß ein Echo. Ein armseliges Echo!“

„Aber das ist doch nicht möglich,“ stotterte Susanne heraus.

„Nicht möglich? Bei einem Manne etwas nicht möglich?“ Sabine lachte laut.

Sie richtete das Haupt voll Hochmut auf und begann von neuem ihre Wanderung.

„Geliebtes Herz,“ sprach Susanne, in dem verzweifelten Wunsch, die Arme zu beruhigen, „ich verstehe ja nicht alles. Verzeih mir, wenn ich dumme Sachen sage. Aber wie kannst du ihn so schmähen und so verachten! Gestern war er dir noch ein Gott. Besinne dich doch! Du sprichst, was dein Herz nicht billigt. Er hat schwere Kämpfe durchgemacht. Er handelt aus tiefster Erkenntnis. Ja, ich muß es sagen: er handelt wie ein Mann, der wohl irren konnte, aber einen Irrtum nicht zur That werden lassen will.“

„Wie ein Mann!“ rief Sabine in bitterem Spott. „Und bereut?! Hast du gelesen: er bereut! Ah, das ist ein feiges Gefühl. Das ist klein. Wie kann man bereuen? Vorher sehe man den Dingen in das Angesicht! Und wenn sie mich mit drohenden Augen wieder anschauen, wenn sie mich in Elend und in Schuld locken – einerlei! Ich habe gewollt! Ich habe gewußt! Ich will es tragen! So denkt ein starker Mensch. So denke ich. Ich war bereit, allem zu trotzen. Der Welt! Und der Erinnerung. Selbst meinem Sohn, wenn er eines Tages mich richten wollte! Und Er! Der Mann – er bereut!“

Susanne schwieg.

Ein ungeheures Schauspiel that sich vor ihr auf. Sie sah in das Elend und in die Geheimnisse der Leidenschaft hinein. Und ihre Seele erzitterte.

Sie fühlte, daß ihre junge Weisheit hier nicht ausreichte, zu trösten und zu raten.

Und immer ging Sabine noch rastlos hin und her, königlichen Stolz in der Haltung, Todesblässe auf den Wangen. Ein beleidigtes Weib, das sich aufbäumte, im Gefühl der Riesengröße seiner Liebe verachtend auf den herabsah, der sich nicht an dieser Liebe ebenbürtig aufzurecken vermocht hatte.

Das leise Weinen Susannens drang an ihr Ohr. Sie blieb stehen.

„Warum weinst du?“ fragte sie herbe, „du hast ihn nicht verloren. Du ihn nicht geliebt!“

„Oh!“ sagte Susanne abwehrend und erhob ihre Hände wie zum Schutze gegen etwas, das ihr körperlich gefahrbringend nahte.

Plötzlich stand die Andere dicht vor ihr.

„Was war das für ein Ton?“ herrschte sie die Zitternde an, „du liebst ihn? Deine Miene sagt es. Du liebst ihn. Ja, du liebst ihn!“

Susanne trat einen Schritt zurück und versteckte ihr Gesicht in den Händen.

„Nicht so etwas sagen – nicht – nicht,“ rief sie angstvoll.

Sabine wandte sich ab. Ach, das war ja auch so gleichgültig! Ob das Kind ihn liebte oder nicht – – was wußte das von Liebe? – – Nach zwei Minuten hatte sie es schon vergessen, daß ihr überhaupt der Verdacht gekommen war.

Brütend saß sie am Fenster. Die lachende Sonne kam herein und glühte über das dunkle Haar hin. Lärm und Fröhlichkeit war draußen auf der Straße. Der blaue Himmel lockte – und es war der Himmel Roms. Aber Sabine sah nichts und hörte nichts. Plötzlich war alles Leben in ihr wie erloschen, aller Haß verglüht, aller Hohn verdorrt. Die Flamme der rasenden Schmerzensleidenschaft war in sich zusammengesunken.

Nur das unaussprechliche Elend war geblieben. Das dumpfe, ungläubige Staunen: es kann ja nicht sein.

Und wieder bat Susanne: „Faß dich!“

Aus hohlen Augen sah die Andere zerstreut zu ihr auf.

Sie solle doch bedenken … was der alte liebe Onkel Fritz sagen werde … wie es doch nötig sei, sich zu beherrschen, sich wenigstens Mühe zu geben, des lieben Alten wegen ….

Sabine sah sie an und schien nichts zu verstehen. Und wie Susanne immer weiter und immer dringlicher sprach, schien sie doch zuletzt zu erwachen.

Mit einer tonlosen, müden Stimme sagte sie:

„Geh’ zu ihm. Sag’, ich sei krank. Sag’, ich müsse allein sein. Heute. Immer. Mein ganzes Leben. Allein … allein.“

Schwer sank ihr Haupt, und sie verbarg es auf ihren verschränkten Armen am Fenster.

(Fortsetzung folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0459.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)