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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wie groß mag nun die Zahl aller Trunkenbolde in Deutschland sein? Auch darüber stehen uns Daten zu Gebote, welche uns wenigstens erlauben, diese Zahl annähernd zu schätzen. Im Jahre 1877 wurden in der Rheinprovinz nach einer Umfrage der Regierung 7138 Trunkenbolde ermittelt (wobei aber eine Reihe von großen Städten mit zusammen beinahe 1 Million Einwohner fehlt); in Westfalen zählte man 3928 notorische Trinker. In Berlin gab es im Jahre 1885 9300 Trunkenbolde und in Ost- und Westpreußen im Jahre 1890 20 000. Danach würde die Zahl der von Trunksucht Befallenen in ganz Deutschland über 300 000 betragen (in England schätzt man die Zahl derselben auf 500 000). Doch sind in dieser Zahl fast ausschließlich die notorischen Branntweintrinker berücksichtigt, während die den bemittelteren Ständen angehörigen Gewohnheitstrinker, welche sich mit Bier oder Wein zu berauschen pflegen, meist außer Beobachtung stehen und daher zum großen Teil außer Rechnung fallen. Einen gewissen Schluß aber auf die Zahl derselben kann man z. B. aus folgender Thatsache ziehen: einer der Fabrikanten für Geheimmittel gegen die Trunksucht, Reinhold Retzlaff in Dresden, hat, wie der Nachweis der Bücher bei einer gerichtlichen Untersuchung ergeben hat, in einem Jahre nicht weniger als 300 000 Mark für Enzianpulver eingenommen. Wenn er von jedem Nachsuchenden durchschnittlich sogar 10 Mark Bezahlung für das Medikament genommen hat, so ergeben sich allein in diesem einen Jahre 30 000 Gewohnheitstrinker, welche sich an ihn wandten und wohl zu einem nicht geringen Teil den zahlungsfähigeren Kreisen angehörten, wenn auch sicher so manche arme Frau ihr letztes Scherflein zum Geheimmittelfabrikanten trägt, um den Ruin aufzuhalten, welchem die Familie durch die Trunksucht des Mannes entgegengeführt wird. Wie viel solcher Geheimmittelfabrikanten aber mag es wohl in Deutschland geben? Man bekommt einen ungefähren Begriff davon, wenn man die Annoncenteile unserer Tageszeitungen und Wochenschriften durchmustert und die zahlreichen Anpreisungen von „unfehlbaren“ Mitteln gegen die Trunksucht liest, von Heilung derselben „mit oder ohne Vorwissen“ des Trinkers.

In einer dieser Annoncen, welche regelmäßig in einer populären naturwissenschaftlichen Wochenschrift erscheint, heißt es:

„Für Rettung von Trunksucht

versendet Anweisung nach 22jähriger approbierter Methode zur sofortigen radikalen Beseitigung, mit, auch ohne Vorwissen zu vollziehen, keine Berufsstörung. Briefen sind 50 Pf. in Briefmarken beizufügen.“

Für jeden Einsichtigen wird es ja klar sein, daß derartige Annoncen auf die Dummen spekulieren, welche bekanntlich nicht alle werden, oder auf die Verzweifelten berechnet sind, welche sich an einen Strohhalm klammern. Nicht, daß ein Mittel gegen die Trunksucht nicht existierte, es giebt ein solches, wie wir gleich sehen werden, nur besteht es nicht in irgend einem Medikament.

Die Geheimmittel gegen die Trunksucht sind entweder ziemlich indifferente chemische oder pflanzliche Stoffe, wie das Enzianpulver des oben erwähnten Retzlaff (ein Bittermittel, welches etwas auf den Appetit wirkt), oder sie haben die Eigenschaft, Ekel (resp. Brechen) zu erregen, wodurch dem Trinker der Alkohol gleichsam verekelt werden soll (Ekelkuren).

Solche Heilmethoden beruhen auf einer Vorstellung, deren Hinfälligkeit sich bei einigem Ueberlegen von selbst ergiebt. Denn wie sollte es wohl ein Medikament geben, welches die Natur eines Menschen so tief veränderte, daß derselbe von nun an einen dauernden Abscheu vor einer ganz bestimmten Substanz empfinden sollte?

Ueberhaupt, wer da glaubt oder verspricht, daß irgend ein Medikament die Trunksucht heilen soll, hat von dem Wesen der Trunksucht keine Ahnung. Er stellt sich die Trunksucht etwa als einen Fremdkörper vor, als einen bösen Geist oder als einen Krankheitsstoff, welcher in den Körper hineingefahren ist und nun durch das Medikament, mit welchem sich der Krankheitsstoff nicht verträgt, hinausgetrieben werden soll.

Es wäre dies allerdings sehr bequem: man nimmt täglich so und so viel Eßlöffel von der Medizin oder so und so viel Pulver „mit oder ohne Vorwissen“, und man ist nach einiger Zeit „mit oder wider Willen“ von der fatalen „Leidenschaft“ befreit. Kann es etwas Einfacheres geben, und kann man sich wundern, daß Tausende und aber Tausende ihr Geld zum Geheimmittelfabrikanten tragen, der sie von der Trunksucht zu befreien verspricht, ohne daß sie dabei etwas anderes zu thun brauchen, als täglich einige Pulver oder Mixturen zu schlucken? So einfach aber ist die Sache denn doch nicht.

Was das Wesen der Trunksucht betrifft, so muß vor allem festgehalten werden, daß die Trunksucht im allgemeinen keine böse Gewohnheit, kein Laster ist, wie noch vielfach geglaubt wird, sondern eine Krankheit, die, wie gerade neuere Untersuchungen gezeigt haben, meistens auf angeborener Anlage beruht, wenn auch dieselbe während des Lebens durch allmähliche Gewöhnung an das Gift erworben werden kann. Die Trunkenbolde sind gewöhnlich erblich belastete Individuen, sei es, daß Trunksucht oder Geistesstörungen oder schwere Nervenkrankheiten in der Familie das belastende Moment bilden. Professor Kräpelin in Heidelberg hat bei 3/4 der Trinker, die er in den letzten Jahren beobachtet hat, erbliche Belastung feststellen können; bei der Hälfte derselben war der Vater Trinker gewesen. Dr. Schmitz (Bonn) fand bei 90% seiner Patienten erbliche Belastung, die in 75% der Fälle durch Trunksucht der Eltern (meist des Vaters) oder der Voreltern entstanden ist.

Es handelt sich bei diesen erblich Belasteten um nervöse, minderwertige, geistig oder moralisch defekte, willensschwache Naturen, welche, sowie sie den Alkohol kennengelernt haben, nicht mehr von demselben lassen können, bald kein Maß mehr finden, zu immer größeren Excessen vorschreiten und mehr oder weniger schnell von Stufe zu Stufe sinken. Der regelmäßige Alkoholmißbrauch ruft, wenn er einen geeigneten Boden findet, sehr schnell, langsamer aber, wenn er denselben erst schaffen muß, eine bleibende krankhafte Veränderung des Nervensystems hervor, welche sich vor allem in einem unwiderstehlichen Trieb nach dem Gifte äußert.

Die zeitliche Entbehrung des gewohnten Giftes versetzt den Alkoholisten in einen unbehaglichen und leistuugsunfähigen Zustand, ähnlich wie den Morphinisten die Entbehrung des Morphiums, welche allerdings weit qualvoller ist. Dazu kommt noch, daß bei gewohnheitsmäßigem Alkoholmißbrauch die Energie und die moralische Widerstandskraft, wie der Charakter überhaupt, sehr geschwächt wird, so daß die Trinker den zahlreichen Versuchungen, welche ihnen in Gestalt guter Freunde, fideler Zechgenossen und lockender Trinkhallen auf allen Schritten begegnen. nur zu leicht erliegen. „Die durch das Gift geschwächte Energie gestattet keinen selbständigen Entschluß, kein Aufraffen aus dem gewohnten Schlendrian.“ So schmiedet sich das Gift selbst die Ketten, um seine Opfer in Fesseln zu schlagen, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint.

Zum Trost sei es allen Alkoholisten wiederholt: es giebt ein Mittel, welches aus dieser Sklaverei befreit, allerdings nur ein einziges, und dieses heißt: völliger und dauernder Verzicht auf alle alkoholischen Getränke.

Der Vorsatz der Mäßigkeit hat noch keinen Trinker geheilt, da das erste Glas die besten Vorsätze erschüttert und über den Haufen wirft. Es handelt sich also darum, das erste Glas, den ersten Schluck zu vermeiden. Wie aber soll das möglich sein in unserer alkoholfreudigen Gesellschaft, da an allen Orten und bei jeder Gelegenheit alkoholische Getränke genossen werden und ein solcher Trinkzwang herrscht, daß jeder, der sich von den Trinkgewohnheiten ausschließt, als Schwächling oder Sonderling verhöhnt wird?!

Es ist deshalb von dem bekannten (kürzlich verstorbenen) Irrenarzte Dr. Kahlbaum in Görlitz vor einigen Jahren in allem Ernste der Vorschlag gemacht worden, die Trinker zusammen auf einer einsamen Insel anzusiedeln, von welcher alle alkoholischen Getränke ausgeschlossen werden könnten. Offenbar wäre dies das einfachste und sicherste Verfahren, wenn – der Vorschlag nur ausführbar wäre. Wenn man sich aber nicht Utopien hingiebt, sondern mit gegebenen Verhältnissen rechnet, so bleibt nur ein Weg zur Heilung der Trunksucht übrig, das ist die zeitweilige Unterbringung des Kranken in einer Trinkerheilanstalt. Hier soll der Alkoholkranke an die völlige Enthaltung von alkoholischen Getränken gewöhnt werden, während andrerseits durch eine zweckentsprechende Behandlung die körperlichen Kräfte gehoben, das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0463.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2021)