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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Lächeln auf diesem wunderschönen Angesicht erscheinen. Einmal mußte er doch weichen, dieser sphinxartige, brütende Ausdruck. –

Es war ein schlimmer Novembertag, als man in Mühlau ankam. Durch die windstille Luft fiel der Regen geradlinig herab, der ganze Himmel war zinnfarben. Die Reiser der kahlen Gebüsche, rechts und links vom roten Bahnhofsbau, glichen schwarzen Ruten. Die schwere, naßkalte Luft drückte den Rauch der Lokomotive herab, so daß er rußig und riechend über den Bahnsteig hinfegte. Das Dach des Hotelomnibus sah wie schwarzes Lackleder aus vor Nässe, und das Pferd, mit einer karierten orangefarbenen Decke zugedeckt, senkte kläglich den Kopf mit der in Strippen hängenden Mähne.

Unter Schirmen, von denen an jeder Rippe kleine Rinnsale flössen, standen der Oberamtmann und seine Frau. Als der Zug langsam anfuhr und viel weiter über den Platz hinaus, wo Sabinens Eltern standen, sagte der alte Herr plötzlich und sehr hastig: „Liebes Kind … Sie haben in Rom einen Malariaanfall gehabt! Die Folgen davon drücken noch ein wenig Ihr Befinden nieder. So schrieb ich Ihren Eltern.“

Sabine war gerade dabei, das Fenster herabzulassen, um ihren Eltern zuzuwinken. Jäh wandte sie sich um. Sie sah den alten Mann durchbohrend an, während langsam ein dunkles Rot in ihre Wangen stieg. Sie begriff, daß er alles wußte. Ein kurzer Kampf in ihr – ein sekundenlanges Aufwallen verletzten Hochmutes. Und dann das überströmende Erkennen all seiner Güte!

Sie reichte ihm die Hand und sah ihm in die Augen.

„Dank!“ hieß dieser Blick. „Heißen Dank!“

„Mühlau!“ schrie der Schaffner und riß die Thür auf.

„Ach, das wissen wir von selbst!“ sagte Susanne mit einem komischen Seufzer.

Der Oberamtmann und seine Frau, die die Notwendigkeit, bei solchem Wetter auszugehen, als eine Verschärfung des auf sie gefallenen Schicksals ansahen, setzten sich in Bewegung, nach der Spitze des Zuges zu. Im zweiten Wagen hatten sie ihre Tochter am Fenster bemerkt.

Und da kam Sabine auch schon schnellfüßig, wie sonst, ein Lächeln auf den Lippen, auf den Wangen noch den Nachglanz der eben gehabten Erregung.

Die Eltern waren betroffen, so sehr, daß sie darüber fast nicht zur Freude kamen. Sie hatten unklare Vorstellungen davon gehabt, daß Sabine äußerlich ganz verändert sein würde; sie waren in dieser Vorstellung sehr aufgeregt, unsicher, ja geradezu verlegen gewesen, denn sie wußten nicht, welchen Ton sie zur Begrüßung anschlagen dürften.

„Na, gottlob, du siehst ja so weit gut aus! Geht es denn besser?“ fragte die Mutter, als sie Sabine geküßt.

Im Oberamtmann stieg ein Groll gegen Onkel Fritz auf.

Uns so ins Bockshorn zu jagen! Das Kind ist ja ganz wohl, dachte er. Sabine hat gewiß nur ihre Launen gehabt, und Onkel Fritz, der sie nicht kennt, nahm das gleich für „Nerven“ –

Etwas langsam kamen Onkel Fritz und Susanne heran. Die ungemein ceremoniöse Begrüßung unter den triefenden Regenschirmen stellte sofort eine Stimmung von unerträglicher Ungemütlichkeit her.

Der Oberamtmann entschuldigte sich, nicht nach München geschrieben zu haben.

Onkel Fritz fror und haßte den Regen und war nicht jedermann gegenüber bereit, sich zu beherrschen. Mit den Mienen und Gebärden eines Menschen, dem sein gegenwärtiger Zustand recht lästig ist, stieg er in den Hotelomnibus.

„Heute abend haben wir doch das Vergnügen?“ fragte die Oberamtmännin.

Onkel Fritz, der wieder seine Lammfellmütze trug, lüftete sie ein wenig und sagte, daß sie alle drei sehr müde seien und daß die Eltern heute wohl auch Anspruch auf ihre Tochter allein hätten. Susanne versprach, im Laufe des Nachmittags einmal nach Sabinens Befinden zu sehen, und dann rasselte der Omnibus davon.

Im Hotel zum Kronprinzen saßen Bläser und Hallendorf mit einigen Kameraden bei einem Frühschoppen, der sich bis zum Mittag heute ausgedehnt hatte. Sie wollten doch den alten Herrn Osterroth und das Fräulein ankommen sehen, für welche oben der Staatssalon nebst zwei Schlafzimmern geheizt waren. Bläser erzählte von der Bekanntschaft damals im Manöver und saß dem Fenster zunächst, um womöglich einen erkennenden Blick von Susanne zu erhaschen und einen Gruß anzubringen.

Aber die Reisenden huschten schnell den Tritt des Wagens herab und ins Haus hinein. Nur den dicken blonden Haarknoten unter dem Rand des schwarzen Filzhütchens konnten die Herren so recht bewundern.

Gleich danach kam der alte Landauer vorbei, der Lärm, den seine schwerfällige Fahrt auf den Kopfsteinen des Straßendammes machte, hallte ordentlich zwischen den Häusermauern wieder.

Die Fenster des Wagens waren beschlagen, und so sahen die Herren nichts von Sabine. Sie mußten sich mit dem interessanten Bewußtsein begnügen, ihren gelben Rohrkoffer auf dem Bock neben dem Kutscher gesehen zu haben.


11.

So war Sabine wieder daheim. Auf der Treppe stürzten ihr die Kinder entgegen. Leo jubelte. Bei Milly erwachte nach Kinderart erst jetzt nachträglich das Erkennen, daß sie ihre Mama so lange entbehrt habe, und sie weinte bitterlich.

Und im Halbdunkel, auf der Treppe kniete Sabine nieder, um ihre Kinder zu umarmen. Dabei wallte ein Gefühl in ihr auf, vor dem sie sich entsetzte.

War das Abneigung gegen ihre eigenen Kinder? Zorn gegen sie, die so unschuldig ihr im Wege zum Glück standen? Denn um ihretwillen konnte sie nicht des Geliebten Gattin werden!

Welche Abgründe giebt es im Menschenherzen! Erbebte Sabine vor dem, welcher sich ihr in ihrem eignen aufthat?!

Stürmisch, aber mit kalten Lippen küßte sie die Kleinen.

Später saß man zusammen um den Tisch. Wirklich eine Familie?!

Sabine hatte das Gefühl, als habe sich ein Abgrund zwischen ihr und den Ihren aufgethan. Sie hatte so viel erlebt! Durch ein Märchen voll Glück, durch ein Drama von Elend war sie seither gegangen. Und die Ihren hatten unterdes still behaglich beim Lampenschein, Pfeifendampf und Kaffeeduft gesessen.

Sie hatte so viel gesehen! Im Lande der Schönheit war sie gewesen, und während sie gemeint, blind und gleichgültig an den Wundern der Kunst und Natur vorbeizugehen, hatte sie doch, sie begriff es jetzt, unbewußt, mit allen Sinnen den Zauber aufgenommen. Und die Ihren hatten unterdes auf die Thür des Krämers Küps gepaßt und die Kleider der Frau Crolpa besprochen.

Wie sollte man sich wieder zusammenfinden!

Und war doch von einem Fleisch und Blut. War einander so nahe, wie sonst nichts mehr auf der Welt: Eltern und Kind, Mutter und Kinder.

Die Mutter betonte, daß man Sabinens Lieblingsgerichte gekocht habe. Der Vater erzählte Streiche, die Milly und Leo gemacht, und Antworten kecker, kluger Art, die sie gegeben hatten.

Nach und nach bemerkten sie dann auch und verständigten sich durch Blicke darüber, daß Sabine doch recht teilnahmlos scheine und wirklich leidend aussähe.

Da sie nun mit großer Vorsicht das Thema „Berlin“ vermeiden wollten, aber auch danach trachteten, ihre Meinung nicht gleich dadurch kundzuthun, daß sie etwa sagten: „Das stille Leben bei uns in Mühlau wird dir gut thun,“ so ward das Gespräch bald gezwungen.

Zum Glück kam Reinald gleich nach Tisch. Sabine umarmte ihn heftig, sagte, daß sie seiner Braut etwas mitgebracht habe, und zog ihn nach hinten in ihr Zimmer, wo Koffereinsätze, noch unausgepackt, auf Stühlen standen und auf dem Sofa und Wandschirm helle Kleider lagen und hingen.

Sabine kniete vor dem Koffer nieder und wühlte auf seinem Grunde. Ihre Bewegungen waren so hastig, sie schien so aufgeregt. Schon sprang sie wieder auf.

„Da, Reinald! Für dich habe ich noch eine Terracotte. Die kommt mit Fracht. Dies für Martha.“

Er bewunderte die hübsche Brosche und dankte viele Male.

Plötzlich warf Sabine sich an seine Brust.

„Reinald,“ sagte sie flüsternd, „ich kann nicht in Mühlau bleiben. Ich muß hier fort. Die Eltern ahnen noch nichts. Morgen wird Onkel Fritz mit ihnen sprechen, ob ich nicht nach Berlin ziehen solle. Steh’ mir bei! Ich flehe dich an!“

„Ach mein Gott,“ sagte Reinald gedrückt, „da wirst du

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0492.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2021)