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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Wir gehen nach dem Wirtshause!“ rief der alte Herr jetzt laut den beiden anderen zu. „Laß dich nicht stören, Elfriede, vollende ruhig deine Skizze, und Sie, Robert, werden wohl auch noch etwas hier herumsteigen wollen. Ihr braucht euch gar nicht zu beeilen, wir haben ja Zeit, mindestens noch eine Stunde!“

Damit faßte er das Opfer seiner Intrigue freundschaftlich unter den Arm und zog es mit sich fort. Jetzt brauchte er sich nicht mehr anzustrengen mit dem Reden, das besorgte Wellborn, der sich in seinen litterarischen Plänen erging und dabei sein Manuskript, ein sehr dickleibiges Heft, aus der Tasche zog.

Unter anderen Umständen hätte der Umfang dieses ersten Kapitels dem Geheimrat einen gelinden Schauer verursacht, heut’ aber blickte er mit außerordentlichem Wohlgefallen darauf und ließ sich sogar die Schrift zeigen. Das dauerte ja jedenfalls noch viel länger als eine Stunde, da konnte sich jene andere Angelegenheit hinreichend entwickeln! Wellborn dagegen war sehr angenehm berührt durch diese so lebhaft kundgegebene Teilnahme, und so langten denn beide im allerbesten Einvernehmen beim Wirtshause an.

„So, nun wollen wir es uns gemütlich machen!“ sagte der alte Herr. „Bestellen Sie uns noch etwas von dem ausgezeichneten Tropfen, den sie da drinnen haben! Dann setzen wir uns drüben unter die Oliven, und es kann losgehen.“

Der Platz war gut und der Wein war noch besser. Zwar gaben die Oliven nur spärlichen Schatten, aber man wußte sich zu helfen. Der Reiseschirm wurde an den Zweigen befestigt, gerade über dem Haupte des Geheimrats, der seelenvergnügt dasaß, sich und seinem Gefährten fleißig einschenkte und im stillen meinte, nun könne er allenfalls das Unvermeidliche aushalten.

Wellborn hatte sein Wetterglas vor sich auf den Tisch gestellt, dann sein Manuskript aufgeschlagen und las jetzt. Er begann mit der Abfahrt von Triest, lichtete dort pünktlich um zwei Uhr dreiundzwanzig Minuten die Anker und steuerte hinaus in die blaue Adria, dann verzeichnete er gewissenhaft nach dem Reisebuch jede Insel und jede Küste, die nur irgendwie in Sicht kamen, und landete endlich glücklich in Korfu, wo nun die Geschichte erst eigentlich begann.

Der Geheimrat hörte kaum zu, er trank behaglich seinen Wein und malte sich dabei in Gedanken die Scene aus, die jetzt voraussichtlich droben am Felsenabhang spielte. Im Anfange würde sie etwas stürmisch verlaufen, davon war er überzeugt. Bei einem Eisenkopf wie Robert und einem Starrkopf wie seiner Friedel waren keine friedlichen Auseinandersetzungen zu erwarten, aber schließlich würde die Sache doch in Ordnung kommen, und dann fiel auch diese verwünschte ägyptische Reise ganz von selbst weg. Dann brauchte er nicht mehr aufs Kamel und auf die Pyramiden zu steigen, sondern steuerte fröhlich heimwärts mit seinen Kindern, und in Lindenhof … hier spielte der griechische Wein dem alten Herrn doch einen Streich, die Umgebung wurde nebelhaft und undeutlich und die Gedanken auch. Aus den Oliven wurden die Linden des heimischen Gartens, zwischen denen befremdlicherweise die Kamele umherspazierten, und drüben in Brankenberg ragte eine riesige Pyramide auf. Dazu schwatzte und klapperte irgend etwas eintönig und unermüdlich, wie das Rad der Sägemühle am Fuße des Weinberges, aber die alte rheinische Mühle klapperte nur griechische Ortsnamen, und dann sah und hörte der Geheimrat nichts mehr, er war sanft und fest eingeschlafen.

Der Schirm, der zwischen den Olivenzweigen schaukelte, senkte sich tief herab, bis auf seine Nasenspitze. Ferdinand Wellborn, der auf diese Weise das Gesicht seines Zuhörers nicht sehen konnte, nahm dessen Schweigen für höchste Aufmerksamkeit und las ungestört weiter.

Inzwischen vergnügte sich das „nervöse“ Wetterglas auf dem Tische in aller Stille, indem es die ganze Wetterskala durchlief. Es hüpfte hinauf bis zum höchsten Stand, und dann sank es von neuem, tief, immer tiefer, bis es endlich beim Erdbeben angelangt war. Da schien es ihm zu gefallen, denn da blieb es stehen.




Robert Adlau und die junge Frau waren in der That zurückgeblieben, aber dies unerwartete Alleinsein schien beiden gleich unerwünscht. Elfriede hatte, als die beiden anderen Herren aufbrachen, eine unwillkürliche Bewegung gemacht, wie um sie zurückzuhalten, besann sich aber schon im nächsten Augenblick und vertiefte sich mit einem flüchtigen „Auf Wiedersehen, Papa!“ ganz in ihre Skizze.

Adlau zog die Stirn kraus, blieb aber ruhig am Abhange stehen, wo er die Aussicht betrachtete. Keiner wollte dem anderen zeigen, wie peinlich ihm dieser Zufall war, denn dafür nahmen sie es doch beide.

Das Stillschweigen hatte schon ziemlich lange gewährt, da schien Adlau endlich einzusehen, daß er nicht immer so stumm durch das Fernglas blicken könne. Er schob es zusammen, trat zu der jungen Frau und machte eine Bemerkung über ihre Zeichnung und den malerischen Vorwurf, ein paar kurze Worte, die ebenso einsilbig beantwortet wurden.

Malerisch war der Vorwurf allerdings. Das kleine Gehöft, das hier so einsam und abseits von den anderen lag, war augenscheinlich längst von seinen Bewohnern verlassen. Das Dach war zerfallen, den Fenstern fehlten die Läden und im Innern regte sich nichts. Eine hohe Steintreppe, mit tief eingesunkenen Stufen, führte zu der geschlossenen Thür, über der sich, roh in Stein gemeißelt, die Umrisse eines Heiligenbildes zeigten. Die niedrige zerbröckelnde Mauer, die den Vorplatz umgab, trug noch die steinernen Pfeiler der landesüblichen Veranda, aber das Weinlaub, das sie umspann, wucherte verwildert und ungepflegt, in wirren Ranken, die hier die Mauern umklammerten und dort, tief niederhängend, ein Spiel des Windes waren.

Durch das Blätterdach fielen die Sonnenstrahlen und spielten in zuckenden, goldigen Lichtern auf dem Boden. Sie huschten weiter bis zu der tiefen Mauerblende, wo es verstohlen aufblinkte wie von rinnendem Naß. Früher sprudelte wohl hier ein Felsenquell mit seinem hellen Strahl, das sah man noch an der kunstlosen Röhre und dem geborstenen steinernen Becken, das ihn auffing. Jetzt war er längst schon versiegt, nur eine kleine, kaum sichtbare Wasserader schlich über das feuchte Gestein und rann langsam, Tropfen um Tropfen, nieder, um sich dann in einer Spalte des felsigen Grundes zu verlieren. Ringsum Verfall und Verödung und hier der versiegende Quell!

Aber diese öde, verlassene Stätte lag in einer Umgebung, deren Reiz selbst das verwöhnteste Auge fesseln mußte. Die weinumrankten Pfeiler umschlossen wie mit einem Rahmen ein weites Landschaftsbild voll lachender, sonniger Schönheit. Es war in den letzten Tagen des Oktober, aber noch lag Sommerpracht und Lichtglanz auf allen Fluren, nur das rötlich schimmernde Weinlaub und der bräunlich goldene Hauch auf einzelnen Baumgruppen mahnte daran, daß es auch hier einen Herbst gebe.

Aus dem matten Graugrün der Oliven, die in endlosen Wäldern Thäler und Höhen bedeckten, tauchten schlanke Pinien und dunkle Cypressen auf. Hier oben an den Berghängen wucherte die Erika in mächtigen Gesträuchen und Aloë und Kaktus senkten ihre Wurzeln in das Felsgestein. Dort drüben lag Korfu mit seinem Hafen, und vom Festlande herüber grüßten die Berge von Epirus schon im leichten Schneegewande. Sie hoben sich scharf und klar empor in die sonnige Luft. Weiter hinaus verschwammen all die Gipfel und Höhenzüge des Gebirges im schimmernden Duft, und dort, ganz in der Ferne, blaute das Meer – die nordischen Gäste, die an die ernsten Formen und Farben ihrer Heimat gewöhnt waren, konnten wohl geblendet sein von dieser Schönheitsfülle und diesem Sonnenglanz.

Frau von Wilkow schien nur Sinn für ihre Skizze zu haben. Sie zeichnete, nur dann und wann flüchtig aufblickend, eifrig weiter. Adlau lehnte ihr gegenüber an einem der Pfeiler, aber sie mochte es wohl fühlen, daß sein Blick auf ihrem Antlitz ruhte, denn jetzt war sie es, die das wiederum eingetretene Schweigen brach.

„Sie reisen also übermorgen, Herr Adlau?“

„Jawohl, gnädige Frau, wie es bestimmt war.“

„Werden Sie es denn aushalten in den engen Verhältnissen zu Hause, nach dem bewegten Leben, das Sie geführt haben? Ich fürchte, Sie werden dort –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0504.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2021)