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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Lieder, die er seinem „Mädgen“ widmet, haben kein Vorbild mehr, die Liebesfülle, die in ihnen glüht, entströmt ganz unmittelbar seinem Innern: „Fühle, was dies Herz empfindet!“ Mitteilen will er sein Gefühl und im geliebten Herzen Wiederhall wecken. Aus dem stürmischen Hufschlag des Rosses, das ihn aus der Stadt hinaus zur Geliebten trägt, aus dem Jubeltakt seines eigenen Blutes erklingt ihm der Rhythmus zu seinem Sang – „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war gethan fast eh gedacht!“ – die Wonne des Glücks, die ihn noch im Trennungsschmerz durchschauert, jauchzt er mit heißem Herzenstrotz in die Welt: „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!“

Es war eine schöne Fügung, daß das hundertjährige Gedenkfest an diese Straßburger Osterzeit von Goethes Poesie gerade in die Zeit fiel, welche uns die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches und den Wiedergewinn des Elsaß brachte. Häßlicher Klatsch hatte inzwischen das Andenken an die von Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ so ergreifend erzählte „Idylle von Sesenheim“ getrübt. Da brachte die „Gartenlaube“ jenen Aufsatz des Pfarrers Lucius von Sesenheim („Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses“, Jahrg. 1871, S. 452), den Erich Schmidt später in seinen „Charakteristiken“ so treffend „eine schöne Friedensbotschaft auf dem Boden eines gemeinsamen Kultus“ genannt hat, „welche die letzten Schatten von Friederikens Namen für immer verscheuchte.“ Begeisterte Goetheverehrer in Straßburg haben sich dann zusammengethan und jenen Hügel beim Sesenheimer Pfarrhaus erworben und mit einer Laube geschmückt, auf welchem zwischen Bäumen und Gesträuch Friederike ihren Lieblingsplatz hatte und so gern mit dem Geliebten – wie es das Bild auf S. 561 darstellt – in traulicher Gemeinschaft weilte. Und wenn demnächst das Goethe-Denkmal in Straßburg hinausschauen wird in das nun längst wieder zum Reiche gehörige Elsaß und der davor Weilende des kurzen Glückes und der langen Reue gedenken wird, die dem Dichter aus der Liebe zu Friederiken erwuchsen, so wird er voll dankbarer Sympathie auch der lieblichen Tochter dieser Landschaft gedenken, die, „selber eine Rose jung“, blühende Rosen reinsten Glückes in Goethes Jünglingsleben flocht und nach deren Bilde der Dichter die rührendsten Züge seines „Gretchen“, wohl der ergreifendsten Mädchengestalt der Weltlitteratur, schuf.

Er selbst hat am Ende seiner Laufbahn die Bedeutung seines Wirkens für die deutsche Nation und deren Litteratur in dem bescheiden stolzen Bekenntnis zusammengefaßt: „Wenn ich aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse.“ Von innen heraus waren die Gedichte an Friederike erklungen, aus seinem Innern stammte das freudige Heldenbewußtsein des Götz, das heitere Selbstvertrauen seines Egmont, Werthers Entzücken an der Natur, der schaffensfrohe Trotz des Prometheus und das titanische Ringen des Faust nach höchster Erkenntnis und höchster Erdenwonne, aber auch die Reue des Clavigo. In fast all seinen Dramen und Romanen stellte er den Drang der rein menschlichen Empfindung, sich frei zu bekennen und auszuleben, dem Konventionellen gegenüber, der Macht der herrschenden Zustände. „Lebt-der Natur gemäß, entfaltet eure angebornen Organe, lauscht nicht nur der Klugheit, sondern auch der Stimme des Herzens!“ rief er den Deutschen zu in dem Organe der „Stürmer und Dränger“, den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“. Und so mahnte sein Dichterwort auch dann, als sich sein naives Bekennen der rein menschlichen Empfindung in ein bewußtes Verkündigen des Bildungsideals der reinen Menschlichkeit, der „Humanität“ gewandelt hatte, als nicht mehr Shakespeare und das Volkslied ihm die Muster für seinen Stil boten und seine „Iphigenie“ unter dem blauen Himmel Italiens, unter dem Eindruck der „ewigen“ Kunstwerke Roms ihre Vollendung fand. Was von den Lippen des Bruder Martin im „Götz“ hervorbricht als stürmische Klage – „Mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein zu dürfen!“ – das verkündet Iphigenie als Evangelium einer abgeklärten sittlichen Weltanschauung der Zukunft. Ein Irrtum aber ist es, zu meinen, Goethes Poesie habe in diesem Stadium ihrer Entwicklung ihren nationalen Charakter verloren. Das Humanitätsideal, das Goethe als gereifter Mann mit Lessing, Herder, Schiller teilte, war ja die edelste Blüte der humanistischen Bildung, welche die besten Geister Deutschlands seit der Reformation angestrebt hatten. Goethes Iphigenie ist ebenso deutschen Blutes wie sein Gretchen; Charlotte von Stein fand in jener ihr Abbild wie Friederike Brion in dieser. Die Gestalten in „Hermann und Dorothea“ fühlen nicht weniger deutsch, weil sie in Hexametern sprechen. Und Goethes Vaterlandsliebe führt in dieser Dichtung noch wärmere Sprache als im „Götz“. Eindringlicher und mit direkterem Bezug auf die Friedensstörer aus Frankreich am Rhein als ähnliche Stellen im „Götz“ klang die Mahnung des wackeren Hermann ins Vaterland:

„Wahrlich, wäre die Kraft der deutschen Jugend beisammen,
An der Grenze, verbündet, nicht nachzugeben den Fremden,
O, sie sollten uns nicht den herrlichen Boden betreten!“

Das ist freilich im Wechsel der Zeiten recht oft übersehen worden. Weil Goethes Stellung als Minister Karl Augusts ihn nach Sands Attentat auf Kotzebue zwang, gegen die erst von ihm begünstigte Burschenschaft in Jena einzuschreiten; weil er sich überhaupt nach den Befreiungskriegen gegen die unklare patriotische Bewegung der enttäuschten Jugend von 1813 ablehnend verhielt, zieh man ihn des Mangels an Vaterlandsliebe. Man schalt auf den „Dichter im Ministerrock“, den „Olympier“, der über den Wolken schwebe. Daß der gealterte Dichter, den auch als Forscher weitabliegende Aufgaben in Anspruch nahmen, anders empfand als sie, wollten die neuen Stürmer und Dränger nicht begreifen. Man spielte Schiller gegen ihn aus, mit dem er doch vereint dem deutschen Theater, als einem Bollwerk gegen die deutsche Vaterlandslosigkeit, in dem fruchtbaren Jahrzehnt von 1795 bis 1805 einen nationalen Charakter gegeben hatte. Man vergaß, daß der von Goethe beratene Herzog der erste von allen deutschen Fürsten gewesen war, der seinem Lande eine freisinnige Verfassung gab, die auch Preßfreiheit gewährte. Doch als später Eckermanns Gespräche mit Goethe und andere Zeugnisse seines geheimen Denkens und Fühlens erschienen, gestanden die liberalen Patrioten offen ihren Irrtum ein, und die Führer des Jungen Deutschland, Gutzkow und Laube, wurden die eifrigsten Verkünder seines Ruhmes. Heute sehen wir mit Staunen, wie das mächtige Adlerauge des Dichters in jenen hohen Jahren gleichwie die eigene Zeit die Zukunft des Jahrhunderts überschaute. Wir erkennen in seinen Aeußerungen über die nationale Bewegung ein realpolitisches Denken, das sich in denselben Bahnen bewegte, auf denen das staatsmännische Genie des Jahrhunderts seinen Siegen entgegenschritt. „Mir ist nicht bange,“ sagte Goethe im Jahre 1828, als Metternichs antinationale Politik in ihrem Zenith stand, „daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige thun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind! Es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines Weimarischen Bürgers von den Grenzbeamten eines großen Nachbarstaats nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag. Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. – Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs durchdrungen hat? … Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja, auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0563.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2020)