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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wie wenn sie sich an einen Nachbar wendete, sagte sie schwach, gedämpft: „Bitte, ein Glas Wasser!“ – Darauf raffte sie sich noch einmal auf; die Augen, die umhergerollt waren, starrten leer, aber fest in die Ferne. Sie stützte die Hände heftig auf die Lehne. Wie mit ihrer letzten Kraft stieß sie laut hervor: „Dixi – animam salvavi!“ Im nächsten Augenblick war alles fort: das Doppelkinn, die Breite und Dicke, die denkende Borniertheit, die Niedergeschlagenheit. Clotilde trat mit leichter Anmut hinter ihrem Stuhl hervor und verneigte sich scherzhaft. Mit ihrer natürlichen Stimme sagte sie: „Dies, meine Herrschaften, war die Ochsenrede.“

„Bravo, bravo!“ rief Herr von Marwitz. „Als ob ich ihn hörte! – Gestatten Sie, Herr Kollege, daß ich Sie beglückwünsche!“

Er drückte ihr scherzend feierlich die Hand, wie im Parlament. Die andern klatschten und riefen Bravo. Jeannette von Lossow ergriff Clotildens rechte Hand und küßte diese mit Gewalt, da sie sich sträubte.

„O Sie goldenste Frau!“ rief Jeannette; ihre Stimme blieb leider dumpf und fast rauh. „Wie haben Sie das gespielt! – Nun halt’ ich es nicht länger aus ohne Ihr Bild. Sie haben mir’s versprochen!“

„Ja, wenn ich nur noch ein einziges hätte –“

Clotilde sah Hans, der neben ihr stand, vor Vergnügen strahlend. „Hänschen!“ sagte sie. „Mir fällt ein: du hast ja meine Photographie in der Brusttasche. Willst du sie mir für das Fräulein geben?“

„Mit unendlichem Vergnügen,“ erwiderte Hans voll Eifer und griff in die Tasche. „Das heißt, Tante, auf Ersatz!“

„Gewiß!“

„Mit Autograph!“ rief Jeannette.

„Wie Sie wünschen.“

Clotilde nahm die Photographie, zog einen zierlichen Stift aus ihrem Gürtel, der das Matrosenjäckchen umschloß, und schrieb auf die Rückseite des Kabinettsbildes ein paar Worte. Dann gab sie es dem Fräulein hin.

„Tausend Dank!“ sagte Jeannette verzückt, und las. „Ich muß noch was dazu schreiben …“

Sie zog auch einen Bleistift hervor und schrieb etwas unter Clotildens Schrift.

„Darf man wissen, was?“

„O ja; es ist kein Geheimnis.“

Clotilde blickte ihr über die Schulter und las: „Mein Ideal!“ – Sie lächelte; darauf machte sie doch ein ernstes, mißbilligendes Gesicht. „Kind! was schreiben Sie da!“

„Die Wahrheit, weiter nichts!“

„Sie sollten mir lieber Revanche geben; Ihr Bild.“

„Aber selbstverständlich, süße Frau,“ erwiderte Jeannette; „sobald ich eins habe! Ich lass’ mich nächstens zu Pferde photographieren; das erste Bild bekommen Sie. Einstweilen aber – warten Sie – einstweilen geb’ ich Ihnen etwas Besseres – ich hab’s immer bei mir – Stronzians Photographie!“

Sie holte sie aus ihrer Tasche; es war nur ein Bildchen. Clotilde konnte sich nicht enthalten, zu lächeln; mit höflich versteckter Ironie verneigte sie sich ein wenig: „Sie berauben sich so um meinetwillen. Danke, danke!“ – Hans trat unwillkürlich näher; seine neugierigen Augen ergötzten sie. „Nun, so schau dir das Wunder an!“ Sie hielt ihm das Bildchen hin; es blieb dabei zwischen ihren Fingern. Während Hans das Rennpferd betrachtete, sah sie, daß auf die weiße Rückseite etwas geschrieben war. „Was steht denn da?“ sagte sie gedankenlos. „‚Mein Ideal!‘ – Ah!“ Jeannettens weißes Blondinengesicht ward bis an die Augen rot. „Mein Gott!“ entfuhr ihr im ersten Schreck. Sie streckte eine Hand aus, um Clotilden das Bild wieder wegzunehmen; hielt dann aber verlegen inne. „Verzeihen Sie … Ich hatte ganz vergessen, daß –“

„Daß Sie noch ein Ideal hatten?“ fuhr Clotilde statt ihrer fort, mit liebenswürdig umschleiertem Lächeln. „Was ist da zu verzeihen? – Ich Glückliche: ich steh’ bei Ihnen ebenso hoch wie ein so vortreffliches Pferd!“

5.

Es folgte eine kleine Stille, dann ein gedämpftes, diplomatisches Lachen. Die Gesellschaft fing an, sich plaudernd zu verteilen; Marwitz und Ellenberger zogen mit Jeannette und einer zweiten jungen Dame im Saal herum. Clotilde fühlte eine Hand an ihrem Arm. Sie wandte sich und sah, daß es die Schwester war. „Was willst du?“ fragte sie. „Was giebt’s?“

Fanny erwiderte noch nichts; sie behielt den Arm in der Hand, winkte mit den Augen ein wenig und führte Clotilde langsam in ein Nebenzimmer. Unterwegs begann sie leise zu sprechen: „Na, Tilde, wie steht’s? Hast du Antwort auf dein Telegramm?“

Clotilde verdüsterte sich. Sie zögerte, es schien, daß sie gar nichts erwidern wollte. Endlich sagte sie doch: „Nun ja. Durch Hans.“

„Und was will der Gatte?“

„Das – das weiß ich noch nicht.“

„Das weißt du noch nicht?“

„Nein; du hörst ja doch. – Wird sich finden, sagt er. – Vielleicht kommt er selbst.“

„Hierher?“

„Ja; wohin denn sonst?“

„Verzeih. Ich frag’ wohl recht dumm. – Ich möcht’ dir nur sagen: wenn er kommt, und wenn er dann – – Tilde, Tilde, bleib fest!“

Clotilde machte ihren Arm los; ihr Gesicht ward bleich und noch finsterer.

„Ach ja, Kind,“ flüsterte Fanny rasch, „es ist eure Sache, ganz allein, das weiß ich. Aber ich bin doch älter als du; und ich hab’ die Erfahrung –“ durch die offene Thür sah sie auf ihren Morland zurück – „also erlaub mir nur ein Wort! Dies ist eure Krisis, Kind. Dein Julius schmollt und grollt jetzt abseits in seinem Zelt, wie Achill; der war’s ja doch, nicht? Bleib du fest! Bleib du fest! Er kommt vielleicht jetzt und spricht irgend ein großes Wort, das lieben die Männer ja. Sag du nicht viel und bleib fest! Wenn der Gatte sieht, daß seine thörichte Laune nicht über dich siegt, daß du ruhig auf deinem Willen beharrst, weil er vernünftig ist, dann wird er endlich in sich gehn, dich gewähren lassen – und zu dir zurückkommen!“

Clotilde, die vor sich nieder sah, schüttelte leise den Kopf.

„Schau, Tilde, wie hab’ ich meinen Anton erzogen; das ist ja doch das reine Glück, für ihn und für mich! Ich nähr’ ihn vortrefflich – das sieht man – ich lass’ ihm seine kleinen Liebhabereien und Thorheiten – daran hängt er; warum auch nicht. Die geben ihm zugleich das Gefühl, daß er ein freier Mann ist; na, das ist ja gut. Dafür hab’ ich die Freiheit, in allen Ehren zu thun, was ich will.“ Sie gab der Schwester einen kleinen Stoß mit der kleinen kräftigen Hand: „Hörst du? Bleib fest!“

Clotilde antwortete nicht. Fanny nahm ihren Arm, da die Hausfrauenpflichten ihr wieder einfielen, und zog sie in den Gartensaal zurück. „Meine Damen und Herren,“ rief sie mit ihrer hellen, lebenslustigen Stimme, „jetzt kommt der Ernst des Tages! Es will Abend werden; – ja, ja, mein Berthchen. Die geehrten ‚lebenden Bilder‘ werden die Güte haben, sich in ihre Garderoben zu begeben; die Primadonna, Frau Clotilde von Hochfeld, voran. Unterdessen nehmen wir andern im Konzertsaal Musik und Erfrischungen zu uns; – auch Herr Hans von Hochfeld wird hiermit feierlich geladen.“ Sie tätschelte Clotildens Wange: „Komm, lebendes Bild! Komm!“

Clotilde nickte zerstreut; eine sichtbare Unruhe war über sie gekommen. Sie sah in den Garten hinaus, auf dem die letzte Abendsonne lag. Etwas lange Zurückgedrängtes bedrückte ihr die Brust … Wo ist Luise? dachte sie. Wo bleibt denn das Kind? Es ist ja beinah, als meide sie mich. Sie geht ihrer Mutter förmlich aus dem Wege. Bei der Quadrille nicht, und im Garten auch nicht?

„Ja, ja, ich komme gleich,“ sagte sie und ging zur Gartenthür. „Laß nur erst die andern – – Ich bin immer die Schnellste. Ich komm’ immer noch zur rechten Zeit!“

„Willst du noch in den Garten?“ fragte Fanny.

Clotilde nickte, ohne zurückzusehn, und trat hinaus. Fanny folgte ihr mit den Augen; sie wunderte sich eigentlich nicht, sie wußte, daß die Schwester zuweilen ihre „Launen“, ihre „Grappen“ hatte.

„Wirst du dich nicht verspäten?“ rief sie ihr noch nach.

„Nein!“ rief Clotilde ungeduldig zurück.

Es that ihr auf einmal wohl, daß sie wieder im Freien war; vielleicht mehr noch, daß sie nicht mit den andern war; sie dachte nicht darüber nach, sie schritt aus. Wo ist Luise? dachte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0571.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)