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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

schäumenden Strudel, sie verrennen sich hier in eine Felsenecke, dort hängen sie sich an eine seichte Erhebung oder sie verstricken sich unter sich selbst zu einem wirren Haufen, der aufgelöst werden muß. Die stämmigen Holzarbeiter verstehen es vortrefflich, mit langen Stangen, an welchen scharfe Eisenhaken befestigt sind, alle diese Unordnungen zu beseitigen; aber es gehören eine erstaunliche Kraft, eine bewunderungswürdige Gewandtheit und eine Ausdauer sondergleichen dazu, diese Titanenarbeit zu bewältigen; nicht selten ist es nötig, bis an den Hüften in der eisigen Flut stehend die kühne Arbeit zu vollbringen. Eine gegenseitige Verständigung der Arbeiter ist nicht möglich; jeder muß selbst wissen, wie und wo er anzupacken hat; denn das Brüllen des Wassers, das Donnern der fallenden Holzmassen übertäubt jeden Laut aus der menschlichen Kehle. Unsere Abbildung vergegenwärtigt uns den Vorgang sehr naturgetreu; sowohl die Scenerie als auch die in so eigenartiger Weise beschäftigten Menschen fesseln unser Interesse in hohem Grade; die Elementargewalt, die aus dem Naturschauspiel spricht, wie die Urwüchsigkeit der Alpenbewohner, die eine so außerordentliche Arbeit zu leisten vermögen, zwingen uns zur Bewunderung. B. R.     

Das Matterhorn. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Matterhorn im Hintergrund des Thales von Zermatt, von welchem wir in unserer Kunstbeilage eine Abbildung nach dem Gemälde des vor kurzem verstorbenen ausgezeichneten Landschaftsmalers Otto v. Kameke bringen, ist der merkwürdigste und am kühnsten geformte Gipfel der schweizerischen Alpenwelt, ein schlank zulaufender Felsenobelisk mit scharf ausgeprägten Kanten und etwas gebogener Spitze, die sich zu 4482 m Höbe erhebt. Den Fuß von Gletschern umlagert, schaut es trotzig in das freundliche grüne Thal von Zermatt und ist so steil, daß der Schnee kaum an ihm haften bleibt.

Der von allen übrigen Bergen durch breite Gebirgssenken abgetrennte Gipfel erweckt Gefühle der Beklemmung und der Furcht, aber auch der Bewunderung, und immer muß das Auge sie wieder suchen, die einsame Spitze in ihrer Größe und Erhabenheit. Indem der Blick auf ihr ruht, kann man sich der Täuschung nicht erwehren, daß der strahlende Gipfel mit seinem Krönchen von Eis in langsamem, majestätischem Flug ins tiefe Blau des Sommerhimmels begriffen sei; er erscheint immer als der höchste im Kreis der vielen Berge von Zermatt, obgleich ihn die nahe gewaltige Gruppe des breit aufgebauten Monte Rosa an senkrechter Erhebung übertrifft.

Lange galt das Matterhorn als vollkommen unersteiglich; am 12. Juli 1865 aber gelang es dem berühmten englischen Bergsteiger Edward Whymper und seinen Freunden Lord Francis Douglas, Reverend Ch. Hudson und Mr. Hadow, die sich Peter Taugwalder, einen der tüchtigsten Männer Zermatts, und Michel Croz von Chamonix als Führer und einen Sohn Taugwalders als Träger genommen hatten, den Fuß auf die nie betretene Spitze zu setzen. Allein mit dieser ersten Besteigung des Matterhorns ist eine der furchtbarsten Absturzkatastrophen verbunden, die sich je im Hochgebirge ereignet haben. Nachdem die Männer eine Stunde auf dem Gipfel geruht hatten und im Begriffe waren, am Seil über die Felsen abzusteigen, riß dieses und mit einem entsetzlichen Schrei stürzten Croz, Hadow, Hudson und der erst neunzehnjährige Lord Douglas über die Felsen von Wand zu Wand. Ihre zerschmetterten Leichname wurden auf dem Matterhorngletscher gefunden, nur der des jungen Lords nicht. So tragisch die erste Besteigung endete, der Bann, der bisher die Spitze des Matterhorns umgeben hatte, war gebrochen, es folgten sofort neue Besteigungen, und jetzt wird der Gipfel Sommer um Sommer von kühnen Kletterern erklommen.

Das kleine Zermatt am Fuß des Berges hat sich zu einem Bergsteigerquartier ersten Ranges entwickelt und mächtige Hotels schauen über die alten niedrigen, sonnversengten Holzhäuser des Ortes, der mit dem Hauptthal des Wallis durch eine Zahnradbahn verbunden ist und von dem die höchste Bergbahn Europas bis über die Gletscher zum 3100 m hohen Gornergrat aufsteigt. Zwei grundverschiedene Kulturen begegnen sich zu Zermatt in ergreifendem Gegensatz, das üppige, sorgenlose Leben der großen, ihren Zerstreuungen ergebenen Welt und der Daseinskampf eines in den engsten Anschauungen befangenen Völkchens, das hart am Rande der Gletscher der Erde noch kurze goldene Garben abschmeichelt, im übrigen sein ewig von Lawinen und Steinschlag, von allen Gefahren des Hochgebirges bedrohtes Leben in stummer, jedes laute Lachen scheuender Gottergebenheit trägt und einen Schatz alter schöner Sagen, Sitten und Gebräuche hütet. Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als die lebenslustig, in bunten Gewändern auf dem Maultiere zu Berge reitende Fremde und das mit ihrem Wildheu wie ein Lasttier beladene, dem Dorfe zuschwankende, dunkel gekleidete Weib von Zermatt, dessen Leben in Arbeit und Gebet aufgeht. Allein manchmal verknüpft doch gemeinsame Sorge die beiden so verschiedenen Welten.

Eine Bergsteigergesellschaft, die nach der üblichen Zeitberechnung schon lange hätte ins Dorf zurückgekehrt sein müssen, ist noch nicht da und auch die ausgeschickte Rettungsmannschaft säumt. Aus der schlichten Dorfkirche ringen sich die Gebete der Einheimischen und Fremden in gemeinsamer Inbrunst zum Himmel. – Endlich um Mitternacht kommt ein Zug stummer Männer, mit verhüllten Gestalten auf dunklen Bahren. „Abgestürzt vom Matterhorn. – Steiger und Führer!“ Das Gebet in der Kirche und das Aufschluchzen der auf der Dorfstraße stehenden Menge. – Das ist das Band zwischen der großen sommerlustigen Welt und dem stillen Völkchen von Zermatt, sie haben beide Angehörige zu beweinen. Kein Berg hat so viele Menschenleben gefordert wie das Matterhorn. Davon reden die Steine und Kreuze auf dem Kirchhof des Dorfes. Von Zeit zu Zeit will der Löwe von Zermatt seine Opfer haben. J. C. Heer.     

Liebesorakel.
Nach einer Originalzeichnung von F. Reiß.

Unsere Goethe-Bildnisse. (Zu den Bildern S. 549 und 560.) Das heutige Heft ist mit zwei Bildnissen Goethes geschmückt, von denen das eine als das beste von denen gilt, die den Dichter im jüngeren Mannesalter zeigen, während das andere als das vorzüglichste unter den vielen Porträts gerühmt wird, die nach dem Dichter im hohen Alter gemalt wurden. Das Oelgemälde von Georg Oswald May, nach welchem das Bild auf S. 560 ausgeführt ist, stammt aus dem Jahre 1779. Es stellt also den Dichter im dreißigsten Jahre dar, im vierten Jahre nach der Uebersiedelung von Frankfurt nach Weimar. Das Bild wurde dort von May, dem Ansbachschen Hofmaler, im Auftrag der Herzogin von Württemberg gemalt.

Wieland schreibt darüber an Merck am 1. August 1779 aus Weimar: „… Mit Göthen hab’ ich vergangene Woche einen gar guten Tag gehabt. Er und ich haben uns entschließen müssen, dem Rath May zu sitzen, der uns ex voto der Herzogin von Würtemberg für Ihre Durchlaucht malen soll. Göthe saß Vor- und Nachmittags und bat mich, weil Serenissimus absens war, ihm bei dieser leidigen Session Gesellschaft zu leisten und zur Unterhaltung der Geister den ‚Oberon‘ vorzulesen. Zum Glück mußte sichs treffen, daß der fast immer wüthige Mensch diesen Tag gerade in seiner besten receptivsten Laune und so amusable war wie ein junges Mädchen von sechzehn …“

In seinem Werke „Die Goethe-Bildnisse“ giebt Hermann Rollett ein älteres Urteil über das Gemälde wieder, das er bestätigt: „Es stellt dies Bildniß den Dichter in jener unvergleichlichen Anmuth, in jenem Zauber edelster jugendlicher Schönheit dar, welcher schon der Genius sein Siegel leuchtend aufgedrückt hat, und mit welcher der junge Poet überall gleich bei seinem ersten Erscheinen die Herzen eroberte.“

Diese „Perle der Bildnisse Goethes“ kam im Jahre 1841 in den Besitz des Freiherrn G. von Cotta, des Besitzers der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. Derselbe ließ von dem Bilde einen Stahlstich herstellen zu der „Volksbibliothek deutscher Klassiker“, die 1853–1858 erschien. 1878 hat dann der Cotta’sche Verlag von dem Bilde eine große Photographie herausgegeben, die weite Verbreitung fand. Als Beitrag zur gegenwärtigen Jubiläumsfeier läßt die Firma soeben treffliche Heliogravüren des Bildes, in einer größeren und einer kleineren Ausgabe, zu ungemein billigem Preise erscheinen.

Das Oelgemälde von Joseph Karl Stieler, welches unser Holzschnitt auf S. 549 wiedergiebt, ist 1828 entstanden. Im Juni dieses Jahres entsandte König Ludwig I von Bayern seinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um den großen Dichter mit aller ihm nur zu Gebote stehenden Kunst nach dem Leben zu malen. Goethe selbst war mit seinem Abbilde, wie er an Gerhard in Leipzig schrieb, sehr zufrieden. König Ludwig fand das Gemälde ebenfalls außerordentlich gelungen. Mit besonderer Sorgfalt hatte Stieler darauf die Verse wiedergegeben, die auf dem Briefbogen sichtbar sind, welchen der Dichter in der Rechten hält. Es sind Verse des Königs, der bekanntlich seiner Kunstbegeisterung gern auch in Gedichten Ausdruck verlieh; sie bilden die fünfte Strophe des Gedichtes „An die Künstler“ und lauten:

„Ja! wie sich der Blume Flor erneuet
Durch den Samen, den sie ausgestreuet,
Zieht ein Kunstwerk auch das and’re nach.
Aus dem Leben keimet frisches Leben,
Das zum Werk gewordene Gefühl
Wird ein neues künftig herrlich geben,
Selber nach Jahrtausenden Gewühl.“



KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Fräulein E. R. in Breslau. Das Buch Légendes et Archives de la Bastille von F. Funck-Brentano (Paris, Hachette, 1898) ist in deutscher Übersetzung erschienen. Der Titel derselben lautet: „Die Bastille in der Legende und nach historischen Dokumenten. Von Franz Funck-Brentano. Mit einer Vorrede von Victorien Sardou. Uebersetzt von Oscar Marschall von Bieberstein.“ (Breslau. Schlesische Buchdruckerei. Kunst- und Verlagsanstalt vorm. S. Schottlander. 1899.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0580.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2020)