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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Von Pontresina herab wandert ein Grüppchen schlichter Leute, ein Dutzend Männer, Frauen, Mädchen und Buben.

„Die Hütte wird verkauft – der Bub’ schlägt sich schon durch. Er geht über Basel in die Welt,“ sagt der wetterbraune Säumer Tuons, der immer ein Birkenzweiglein im Munde hält.

„So lange man weiß, ist Auswanderung im Engadin gewesen,“ versetzt der Mesner, ein bedächtiges, eisgraues Männchen, dessen Rede man es wohl anspürt, daß er auch eine Art Schulmeister des Dörfchens ist. „Aber jetzt ist ein Rausch im jungen Volk, daß wir bald nur noch alte Kracher und überzähliges Weibervolk in unsern Dörfern haben. Wo man hinkommt, in Pontresina, Samaden, St. Moritz, hört man den gleichen Trumpf ,Fort in die Fremde – fort!‘, und unsere kleinen Dörfer werden viel zu groß.“

„Ha, die Felsen können wir halt nicht fressen,“ erwidert Tuons mit derber Grobheit und verzwicktem Lachen. „Das ist die Weltgeschichte: ein Großer macht einen Federstrich und tausend Kleine verderben dran!“

Den verhängnisvollen Federstrich, von dem der Säumer redet, hat für das Bündnerland, für das Engadin General Napoleon Bonaparte durch den „Veltliner Raub“ gethan.

Der „Veltliner Raub“. – Vor bald dreihundert Jahren hatte der Herzog Maximilian Sforza den Bündnern das Veltlin mit den Städten Chiavenna und Bormio geschenkt und man hatte das jenseit der Bernina gelegene Land durch Vögte als Unterthanenschaft verwaltet. Namentlich die Engadiner hatten in dem gesegneten Thal ihre Landhäuser, ihre großen Güter, Obstgärten und Weinberge besessen und sie durch Pächter bewirtschaften lassen, um je und je im Herbst voll Fröhlichkeit zur Ernte hinüber zu ziehen und den Herrenanteil des Ertrags einzuheimsen. Da waren aber vor einiger Zeit im Veltlin Unruhen entstanden und die Bewohner des Thales hatten Bonaparte, der just als siegreicher Feldherr in der Lombardei stand, zum Helfer angerufen. Mit seinem Machtspruch riß er den Garten Rhätiens vom Bergland los, verschenkte die bisherigen Privatgüter der Bündner an seine Günstlinge, und alle Proteste und alle Mühen um ihre Wiedererwerbung sind umsonst.

Wie sich nun abfinden mit dem Verlust eines Gartens, wenn um das eigene Haus hin nur etwas Wald und Gras wachsen? Denn das Engadin ist wohl ein wunderschönes Thal, die silbernen Firnen leuchten wie ein Gruß Gottes darüber hin, seine Seen sind kristallne Märchen, in seinen Felsen blühen die herrlichsten Blumen, aber fragt man in St. Moritz: „Was gedeiht bei euch?“ so antworten die Leute: „Weiße Rüben“, in Pontresina: „Weiße Rüben“, in Samaden: „Weiße Rüben“, und erst weit unten in Zuoz sagen die Dörfler: „Wir wohnen in einer köstlichen Gegend, denn bei uns wächst, so Gott will, auch ein Mundvoll Gerstenbrot.“

Davon und von dem Kriegselend, das nach dem Veltliner Raub ins Thal hinaufgestiegen ist, sprechen die Männer.

„Beim Eid, es kommt noch dazu, daß die Alten wie die Jungen in die Fremde gehen müssen. Die Rosse stehen vor der leeren Krippe im Stall und wir können uns auf die Hände stellen und zwischen ihnen hindurch nach einem Taglohn auslugen. Es ist kein Glück mehr auf unsern Pässen.“ So redet Tuons, die Arme reckend.

Da überholt ein Reiterpaar die wandernde Gruppe, die Fußgänger weichen aus und ziehen die flachen dunklen Filzhüte.

Der Reiter und die Reiterin grüßen mit freundlichem Zuruf.

Es sind der leutselige Pfarrer Jakob Taß von Pontresina, ein stattlicher Fünfziger in halb geistlichem, halb weltlichem Anzug, und ein Fräulein in blumigem Sommerkleid. Unter dem gelben Florentinerhut, der ihr feines Gesicht überschattet, glänzen goldbraune, freudige, große Augen, ihre Haltung ist stolz und frei, ihre Bewegungen sind leicht und kräftig und ihr Wuchs ebenmäßig.

Ihre Erscheinung sprüht vor Leben, bewundernde Blicke folgen ihr, und sie ist mit dem Pfarrer kaum aus Hörweite geritten, so fragt Tuons: „Wer ist sie? – die hat ja Augen wie zwei Sonnen!“

„Das wißt Ihr nun nicht,“ lächelt der Mesner. „Es ist Cilgia[1] Premont, die Nichte des Pfarrers, und erst etliche Tage da. Sie war in der Erziehungsanstalt des Dekans a Porta zu Fetan.“

„Verbessert denn a Porta, der Menschenfreund, auch das Weibervolk?“ spöttelt der derbe Tuons.

„Ueber die braucht Ihr Euch nicht lustig zu machen,“ versetzt der Mesner und schüttelt mißbilligend den halbkahlen Kopf. „Die ist so gescheit, daß sie eine Gelehrte werden könnte. Denkt nur, sie treibt mit dem Pfarrer Latein!“

„Premont – Premont?“ fragt jetzt Tuons. „Ist ihr Vater der verstorbene Podesta von Puschlav, der das schöne Haus links an der Straße gebaut hat?“

„So ist’s,“ bestätigt der Mesner. „Er hat vor etwas mehr als zwanzig Jahren die Regina Taß, die jüngere Schwester des Pfarrers, zur Frau nach Triest geholt – und Bündner Kaffeewirte giebt es zu Paris, London und Petersburg, in allen Haupt- und Meerstädten, aber keinen, der angesehener gewesen wäre als seiner Zeit Premont in Triest. Als er verwitwet heimkam, wurde er gleich Podesta.“

„Woher also das Fräulein die Gescheitheit hat, muß man nicht fragen,“ meint Tuons.

„Der Podesta,“ erklärt das alte Männchen, „wollte aus Puschlav eine Mustergemeinde machen; er richtete zuerst im ganzen Land eine Schule ein und hielt sich dabei an die Ratschläge a Portas. So kam’s, daß der Philanthrop das Mädchen nach dem Tod ihres Vaters aus Freundschaft in sein Institut zu Fetan aufnahm, obgleich er es sonst nur Jünglingen öffnet.“

„Fetan,“ versetzt Tuons lebhaft, „wenn Ihr von Fetan sprecht, so kann ich Euch etwas Funkelnagelneues berichten! Im Wirtshaus zum Weißen Stein am Albula habe ich es gestern gehört.“

„Was ist’s denn?“ drängten die andern.

Allein erst nach einer Kunstpause erwidert Tuons:

„Am gleichen Abend, wo Lecourbe nach der Schlacht von Finstermünz in Fetan einzog, hat man dort einen Tiroler Spion gerettet und heimlich über die Grenze geführt.“

„Das glaubt der stärkste Mann nicht!“ fährt ein Ziegenhändler heraus, und der Mesner winkt dem Säumer mit heftigem Erschrecken Schweigen zu.

Allein der fährt prahlerisch fort: „Der nächste Schluck Veltliner soll mich töten, wenn die Geschichte nicht wahr ist!“

„Tuons, jetzt haltet das Maul!“ unterbricht ihn der Mesner scharf. „Wollt Ihr Häuser, Dörfer anzünden? In Chur steht immer noch der Gesandte Frankreichs. Gotts Tannenbaum, Tuons, das ganze Engadin käme ja in Kontribution! Habt Ihr denn die Geschichte des Junkers Rudolf von Flugi schon vergessen?“

Tuons blickt bei der scharfen Zurechtweisung verlegen in die Weite, wo sich das Reiterpaar bewegt, und lacht plötzlich gezwungen auf:

„Ich habe nichts sagen wollen, als die Podestatochter von Puschlav habe Augen wie zwei Sonnen.“

Die andern schweigen, denn Kriegsfurcht steckt noch allen in den Gliedern.

Den Frühling hindurch, ja bis vor wenigen Tagen hatte das Engadin vom Maloja bis nach Martinsbruck zu unter dem Durchzng fremder Heere gedröhnt. In der einen Stunde tränkten die Reiter Lecourbes, des französischen Generals, in der andern die Londons, des österreichischen, an den großen Dorfbrunnen ihre Pferde. Mit dem Ruf „Vive 1a republique!“ errichtete man vor der Ankunft der französischen Standarten Freiheitsbäume, mit Jubel warf man sie ins Feuer, wenn die österreichischen Lanzenfähnchen von fern im Winde flatterten. Man litt und duldete, und kam mit der Losung „Den Mund halten!“ leidlich durch die Not der Zeit.

Einem aber – darauf spielte der Mesner an – war das Herz übergelaufen. Dem Junker Rudolf von Flugi, dem Gemeindevorsteher von St. Moritz. Als der französische Oberst Diriviliez in dem schon ausgehungerten Dorf seine Reiter auf Requisition ausschickte, trat der alte Edelmann vor ihn: „Bürger

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0582.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)
  1. Sprich „Zilschja“ mit sehr weichem „Z“ und „sch“.