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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Oberst, Ihr vergeßt, daß General Bonaparte den Bewohnern des Bündnerlands gegen die Zusage unserer Neutralität nicht nur die Sicherheit des Lebens, sondern auch des Eigentums verbürgt hat. Ich berufe mich gegen die Requisition auf die französische Ehre. Ein Schelm, wer ein Brot nimmt!“ Am andern Tag führten zwei Reiter den Junker gefesselt nach Chur ins Gefängnis, und unter der Bevölkerung wurde ausgestreut, ein angesehener St. Moritzer Bürger habe den Junker als heimlichen Berater Oesterreichs verraten.

Bald nach diesem Ereignis indessen hatte sich das Blatt gewandt.

In den schauerlichen Felsenklüften von Martinsbruck und Finstermünz, über denen die letzten Berge Bündens und die ersten Tirols hellsonnig ragen, erwartete der Tiroler Landsturm den Feind. Und siehe da: die Tiroler Bauernschützen, die zu beiden Seiten der Schlucht todesmutig an den Felsen hingen, warfen die Franzosen in entsetzlicher Entscheidungsschlacht ins Engadin zurück, und General Lecourbe zog mit seinem geschwächten Heer über die Pässe ab. Bei der Rast in Chur schenkte er dem Junker von Flugi, dessen ältester Sohn in französischen diplomatischen Diensten stand, die Freiheit, und man war im Engadin nicht wenig überrascht, als der schon verloren Gegebene über die Höhen des Julier herniederstieg und zu den Seinen zurückkehrte.

Der eben zusammentretende Thalrat wählte ihn zum Landammann des Hochgerichts Oberengadin, und heute ist die Landsgemeinde, an der das Volk dem neuerwählten Magistraten huldigt und er es zu Gast empfängt. –

Aus schwerer Not, aus bitterer Demütigung heben die Engadiner ihre Köpfe und schöpfen wieder Atem.

Frühling in den Lüften – Frieden im Thal. Das sprießende Grün auf den Matten entsündigt die Erde von dem Blut, das sie getrunken hat, und um die verrosteten Waffen, das zerbrochene Sattelzeug, die bleichen Knochen, die noch da und dort am Wege liegen, blühen die goldenen Primeln.

Ein Frühlingskind, reitet Cilgia Premont neben dem schon leicht ergrauten Pfarrer und ihr silbernes Lachen läutet in den innig schönen Tag.

Sie hat den Adler erspäht, dessen Schrei eben wieder aus unergründlicher Höhe dringt.

„Dort steht er über dem Piz Rosatsch und leuchtet wie eine Ampel, als thue er es nur dem schönen Tag und der Landsgemeinde zulieb.“

Der Pfarrer lacht herzlich: „Thörin du – der dort oben sinnt gewiß auf nichts als auf Raub, Verderben und Teufelei. Es ist der Rosegadler, der alte, fast zwanzigjährige Räuber.“

„Onkel, Ihr seid gewiß auch ein großer Nimrod!“

Um Cilgias Lippen zuckt der Schalk und vergnüglich geht der Pfarrer auf ihren Ton ein.

„Was hat man im Bergdorf anderes zur Kurzweil als Bücher und die Jagd!“

„Ja, aber Pfarrer und Jäger, das stimmt doch nicht so recht zusammen?“ Die blühende Neunzehnjährige sieht ihn von der Seite übermütig und erwartungsvoll an.

„Was hast du gegen die Jagd? Ich habe mich schon gefreut, du würdest im Herbst mit mir in die Gemsreviere gehen – vielleicht selbst einmal ein Tier schießen. Du wärst nicht die erste im Engadin!“

„Nein – die Jagd ist abscheulich,“ sagt Cilgia fest. „Ihr wißt, mein Vater hatte sie nicht gern, weil sein einziger hoffnungsvoller Bruder als Jüngling beim Jagen verunglückt ist – und seine Abneigung ist mir ins Blut übergegangen. Auch weiß ich von der Mutter her zu viele schreckliche Gemsjägersagen. Aber Onkel,“ fuhr sie fort und blickte dabei unternehmungslustig in den Kreis der Berge, „a Porta hat erzählt, es sei eine neue Sitte im Werden: aus Deutschland und Frankreich kommen jetzt zuweilen gelehrte Männer ins Gebirg, die es nur aufsuchen, weil sie seine Schönheit und Größe bewundern. Mit denen möchte ich es halten! Wir wollen einmal zusammen recht hoch ins Gebirge steigen.“

Und die goldbraunen Augen blitzen in Unternehmungslust.

„Also dir gefällt’s bei uns im Oberengadin?“ scherzte der Pfarrer wohlgelaunt. „Das freut mich! Du bist ja auch rasch als Engadinerin anerkannt und unter die Ehrenjungfrauen der Landsgemeinde geladen worden.“

„Das verdanke ich Konradin von Flugi. Ich freue mich, in Samaden den Jungen wiederzusehen. Auf der Reise von Fetan verging er fast vor Elend darüber, daß sein Vater gefangen war.“

In diesem Augenblick fliegt vor ihr und dem Pfarrer ein kleiner dunkler Schatten pfeilschnell über die weiße Straße und die Pferde stutzen.

„Nur die Wildtaube dort in der Luft,“ lacht der Pfarrer.

Sie haben aber den hochfliegenden Vogel, der wie ein hellleuchtender Blitz vom Schafberg über das Thal nach dem Waldhügel St. Gian bei Celerina hinüberfliegt, kaum erspäht und die unruhigen Pferde wieder angetrieben, so erleben sie ein größeres Schauspiel.

Aus der blauen Luft hernieder rauscht mächtig wachsend der Aar, stößt wie ein Ungewitter schief hin auf die Taube, und indem er sie in einem der Fänge hält, hebt er sich schon wieder.

„Die freche Bestie!“ eifert der Pfarrer.

Da kracht ein Schuß, über dem Wald bei Celerina zerrinnen ein paar Ringe bläulichen Rauches, die Taube gleitet aus den Krallen des Adlers zur Erde. Der Räuber steigt noch, sein Flug wird aber schwankend, er flattert, er überschlägt sich, und schnell und machtlos fällt der König des Gebirges zwischen dem Weg und dem Wald auf die grüne Matte.

„Schau – schau, Cilgia! Ich möchte nur wissen, wer den Schuß gethan hat!“ ruft der Pfarrer voll Spannung.

Ein junger hochgewachsener Mann eilt aus dem Gehölze auf den im Todeskampf ringenden Vogel zu.

„Wenn das nicht Markus Paltram ist – er ist’s!“ ruft Cilgia. „Ich muß ihn grüßen.“

Sie schwenkt ihr Tüchlein seltsam erregt, ihre Bewegungen sind hastig.

„Markus Paltram?“ sagt der Pfarrer verwundert. „Ich kenne ihn nicht.“

Eine feine Röte steigt auf in Cilgias Gesicht.

„Es ist der Bote, der Konradin von Flugi den Brief seiner Mutter mit der Nachricht gebracht hat, daß sein Vater von den Franzosen verhaftet und fortgeführt worden sei.“

„Weswegen denn diese Unruhe, Kind? Die Zügel zittern dir ja in der Hand?“

Cilgia wechselt die Farbe, sie schlägt die Augen schuldvoll zu Boden – und nun zuckt es ihr doch wieder schelmisch um die Unterlippe. Sie schaut den Pfarrer frei an.

„Fragt jetzt nicht so viel, Onkel,“ bettelt sie schlicht, „ich habe mit Paltram – ein Geheimnis – auf der Straße kann ich es Euch nicht verraten – aber am Abend in der Stube will ich es Euch gern beichten – bis jetzt habe ich schweigen müssen.“

Als sie seinen großen, überraschten Blicken begegnet, erglüht sie wieder wie ein sich schämendes Kind.

„Denkt nichts Böses von mir – nein, das könnte ich nicht leiden!“

Da nimmt der Pfarrer eine Prise aus silberner Dose und lächelt. „Das thue ich nicht – hinter deiner Stirn hat ja gewiß kein böser Gedanke Raum. Es wird übrigens so ein Geheimnis sein, wie wenn zwei Buben gemeinsam ein Vogelnest im Hag kennen!“

Der junge Schütze hat sich unterdessen des Adlers bemächtigt und kommt näher. Da erkennt er die Reiterin, tritt sichtlich erfreut herzu und grüßt mit dem Anstand eines Mannes, der die Welt gesehen hat, ja mit verbindlicher Höflichkeit.

„Ein Meisterschuß,“ lobt der Pfarrer eifrig, „ein Schuß, wie er nicht alle Jahre im Engadin fällt.“

Der Schütze aber wandte sich an Cilgia:

„Darf ich Euch ein paar der schönsten Federn geben Fräulein?“

Er hebt den Adler, aus dessen Brust das hellrote Blut über die Wellen des Gefieders rieselt, an einer Flügelspitze so hoch, als sein Arm reicht, und die prächtigen Schwingen des Vogels öffnen sich rauschend, so daß das Ende des andern Flügels den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0583.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)