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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wie merkwürdig ist doch Markus Paltram in ihren Lebenskreis getreten!

Da dröhnen von der altersgrauen Peterskirche am Berghang hinter Samaden die Böller, sie hallen an der Bergwand der Piz Languardkette wieder, unter Trommelwirbel beginnt der Umzug des Volkes, der der Landsgemeinde vorausgeht, durch den Flecken. Voran reitet der Weibel im langen zweifarbigen Mantel, das Bündnerwappen, den springenden Steinbock, auf der Brust. In gemessenem Abstand folgen der alte und der neue Landammann, den Degen zur Seite, den Zweispitz auf dem Haupt. Hinter ihnen reitet einzeln der Landgerichtsschreiber, der das silberbeschlagene Landbuch auf den Sattelknopf stützt. Dann schreitet einer zu Fuß, ein gar düsterer Geselle, der ein langes, zweischneidiges, mordlustiges Schwert in markiger Faust erhoben hält. Das ist Domino Cla, der auf einer Innwiese bei Bevers vom Leben zum Tode richtet. Es folgen zu Pferd die dreizehn Richter in dunkler Tracht und hinter ihnen zu zwei und zwei junge und alte Reiter.

Einige Jünglinge grüßen, die Hüte lüftend, zu Cilgia empor, und sie erwidert mit anmutigem Nicken. Es sind ehemalige Zöglinge des Instituts a Porta: der hochaufgeschossene Luzius von Planta von Samaden, der bedächtige Andreas Saratz von Pontresina und Fortunatus Lorsa von St. Moritz, eine kraftvolle Feuerseele.

Einer aber grüßt nicht, Konradin von Flugi, der Sohn des Landammanns, und Cilgia zieht einen lustigen Schmollmund.

„Natürlich der Poet – auf dem Pferd sitzt er am Ehrentag seines Vaters wie ein Schneider – warte, du heimlicher Tasso des Engadins!“

Der berittenen Vorhut des Zuges, die langsam hinter den Häusern des Fleckens verschwindet, folgen die Wagenfahrer, eine Abteilung älterer und gemütlicher Leute, die ihre Frauen und Töchter zu sich auf die Fuhrwerke gehoben haben, und endlich die Fußgänger, unter denen sie auch Markus Paltram bemerkt.

Und sie errötet, indem sie seinen Gruß erwidert.

Zusammen mögen die Ziehenden, die der Sitte der Zeit gemäß die hellgelben hirschledernen Kniehosen und den halbhohen Hut tragen, etliche Hundert sein, ländlich elegante Junker, die sich Zweispitz und Degen gestatten, stolze Herrenbauern, reiche Händler, viele, denen man es ansieht, daß sie in fremden Ländern gewesen sind, und das bodenwüchsige Volk der Säumer, Weger, Sennen und Kleinbauern, das nicht glatt rasiert ist wie die Herren, sondern sich Schnurr- und Kinnbart gönnt. Und das von Süden strahlende Silberlicht der Bernina, das neugierig wie ein Kind an allen Häuserecken hervorguckt, weiht das schlichte Volksgepränge.

Allein Cilgia lebt von ihren Kindertagen her in den buntern Bildern italienischen Volkslebens und in den heitern Tönen einer wärmeren Volksseele – hier, im Heimatthal ihrer Mutter, ist alles so voll Ernst und Würde, voll Einfachheit und Festigkeit.

„Wie würde dieses strenge Volk urteilen, wenn es wüßte, was zu Fetan geschehen ist?“

Auf dem Landsgemeindeplatz, wo zuletzt nur noch wenige Gruppen gaffender Zuschauer stehen, sieht sie ein altes, häßliches Weib in bunten Lumpen herumgehen und den müßigen Leuten Ziegenglöckchen und Kuhschellen anbieten. Das ist die Mutter des Hauderers und Glockengießers Pejder Golzi, die Wahrsagerin mit dem fleischlosen Kopf – der wandernde Tod. Auch sie mahnt Cilgia an Fetan. Hätte sie damals anders handeln können, als sie gehandelt hat? Ewig würde sie es doch freuen, daß sie ein junges Leben sich selbst und einer Mutter den Sohn zurückgegeben hat. Was komme, sie wird die Verantwortung tragen!

Unbeweglich ruht sie und sinnt. Vor ihrer Erinnerung steht hellglänzend das kleine Dorf, das halb noch auf Erden, halb schon im Himmel sich auf einer Bergaltane des Unterengadins erhebt und in die tiefe Schlucht hinabsieht, wo sich die silberschuppige Schlange des Inns windet. Im Institut a Porta sind nur wenige Zöglinge, die meisten hat der Krieg in die Heimat zerstreut. Man hat – es war anfangs der vergangenen Woche – sich um den gebeugten Dekan in einem lichten Föhren- und Birkengehölz gesammelt und horcht auf die ferne Schlacht, die seit gestern abend schon und seit dem frühen Morgen in der Gegend von Martinsbruck und Finstermünz tiefer im Innthal wütet. Es ist, als ob der dumpfe Donner der Kanonen aus der Erde selber steige, und je nachdem der Wind weht, hört man auch Gewehrgeknatter wie das Geräusch eines Hagelwetters. Die Zöglinge legen das Ohr auf die Erde, um zu entscheiden, ob der Kampf näherrücke oder sich entferne. Sie werden nicht klug daraus. Dann und wann jagt eine Stafette auf der Straße. Der Reiter heischt Wasser, giebt keinen Bescheid, flucht auf die Oesterreicher, auf Gott und die Welt. Endlich erbetteln sich die Zöglinge die Freiheit, gegen Remüs hinunterzuwandern, damit sie, wenn möglich, etwas über den Gang der Schlacht vernehmen.

Da kommt von der andern Seite, von Steinsberg her, ein einsamer Gänger, er grüßt, er fragt a Porta: „Seid Ihr der Herr Dekan?“ Er übergiebt ihm zwei Briefe. Der erste versetzt den würdigen Philanthropen in einen Taumel der Freude. „Sieh, Cilgia, was mir der herrliche Herr Heinrich Pestalozzi von Zürich schreibt: ‚Meinen Segen und Kuß, Dir, Du Engel des Engadins.‘ Das ist Himmetstau in der schweren Betrübnis dieser Zeit! Erquicke den Boten!“ Markus Paltram – er ist der Ueberbringer – sagt gespannt: „Lest auch den andern Brief, Herr Dekan!“ Dieser thut’s und erschrocken fährt er auf: „Sie haben den Vater unseres Konradin gefangengenommen. Ich muß den Armen vorbereiten – ich führe ihn morgen selbst seiner Mutter zu! Cilgia, wenn ich Pferde auftreiben kann, kommst du mit – du bist auch sicherer im Oberengadin!“ Damit eilt der würdige Philanthrop den Zöglingen nach, die auf dem Weg nach Remüs sind.

Sie ist allein mit Markus Paltram. Ein mit einer Leinwandblache überdachter Wagen schwankt von der Remüser Seite heran. Ein derber schwarzer Mann und eine Frau, über die der Schweiß niederströmt, ziehen ihn, das alte hagere Weib mit dem Totenkopf schaut vorn, schmutzige Kinder blicken auf der Seite der Leinwandblache heraus, und eines der Kleinen schreit: „Mutter, Millich, dort ist Millich!“ Der Wagen steht und der Hauderer stößt einen Fluch aus: „Hol’s der Teufel, weiter fahren wir nicht!“

Cilgia bringt ein Becken gestockter Milch, sie tränkt die Kleinen, da tönt eine Stimme aus dem Innern des Wagens: „Fräulein, um Gott’s und Maria willen gebt mir ein Tröpfchen – ich thu’ verbrennen.“ Der Hauderer, der rauhe Pejder Golzi, fährt auf: „Du dummer Hund, wenn du dich selber verrätst, so magst du sehen, wie du weiter kommst – wir bringen dich nicht mehr vorwärts!“ Er öffnet die Blache, er reißt einen blutrünstigen, nassen jungen Mann vom Wagen und eilt, sein Weib antreibend, mit dem Fuhrwerk Hals über Kopf gegen Steinsberg, als wäre die Hölle hinter ihm her.

Da steht der Flüchtling, ein junger blauäugiger Mann, voll Schmutz, Schlamm und Blut, und trinkt gierig Milch. Auf der Straße von Remüs schreitet langsam a Porta mit den Zöglingen heran, strömen Leute, die von den freien Punkten Ausschau gehalten haben, und der Ruf „Die Franzosen kommen – die geschlagenen Franzosen!“ verbreitet sich durch die Frühlingsdämmerung. – –

Soweit sind Cilgia die Bilder des erregten Abends in eilender Hast vor der Erinnerung vorübergezogen, da tritt eine zierliche Blondine, die einzige, zugleich die jüngste in der Schar der jungen Mädchen, auf Cilgia zu und die anderen begleiten sie mit neugierigem Blick.

„Fräulein,“ sagt sie errötend, „wir wollten Euch nicht stören, aber wir sollten unsere Plätze wählen!“

Ein Lächeln gleitet über Cilgias Gesicht. „Ihr seid gewiß Menja Melcher!“ und ein herzgewinnender Blick streift das Mädchen mit den vergißmeinnichtblauen Augen.

Es verwirrt sich und fragt: „Woher kennt Ihr mich?“ Schüchtern klingt ihr Stimmchen.

Um Cilgias Lippen und Augen zuckt es von Schalkheit: „Kommt nur und zeigt mir das Gemach, wo ich die Gäste zu erwarten habe.“

„Nein, Ihr müßt es selber wählen, wir haben es so verabredet.“

Lieblich wie eine Hagrose glüht das sechzehnjährige Kind.

„So kommt, Menja, wir wollen uns das Haus ansehen.“ Und Cilgia legt den Arm leicht um die Hüfte des Mädchens.

Sie wandern durch die Säle und Gemächer des Palastes.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0586.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)