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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.
(1. Fortsetzung.)


3.

Der Sommer ist gekommen.

Pfarrer Taß ist nach St. Moritz zu einer Konferenz gegangen. Cilgia sitzt am offnen Fenster, ein Buch auf ihren Knieen. Der Duft der Nelken, der Lieblingsblumen der Engadiner Frauen, strömt durch das Pfarrhaus, die Stille des Nachmittags brütet in dem mit Lärchen- und Arvenholz ausgetäfelten Gemach und webt um die einfach geschnitzten, mit Blumen bemalten alten Möbel.

Das Mädchen blickt vom Buche zu zwei alten Gemälden auf, die trotz der wurmstichigen Rahmen und obgleich die Farben im Lauf der Zeit nachgedunkelt sind, den vornehmsten Schmuck des Gemaches bilden und auf den ersten Blick die Hand eines Meisters verraten. Es sind zwei Gegenstücke.

Das eine stellt einen scharfgeschnittenen Männerkopf von asketischem Ausdruck dar. Die starkgebaute Stirn ist eisern, die Lippen sind schmal und hart, in den schwarzen Augen sitzt ein Funke Fanatismus, aber es liegt ein springender Zug geistiger Größe in diesem Kopf, der einem Manne zwischen den Vierzigen und Fünfzigen angehört. Die weiße Halsbinde und der Predigtrock verraten den protestantischen Pfarrer. Das Gegenstück ist ein wunderbar süßes und keusches Frauenantlitz mit allen Reizen der Jugend und tiefer Innerlichkeit. Ein einfaches Blütenkränzchen zieht sich über der reinen Stirn durch das dunkle Haar, die Stirn selber aber weist deutlich eine lange Spur von Narbenmalen, die das süße Gesicht etwas entstellen, doch in den mandelförmigen dunklen Augen liegt der Friede einer Verklärten.

In den untern linken Ecken beider Bilder stehen in Karminschrift einige Worte.

„Affligebat eam et subjectus est!“ („Er schlug sie und unterlag!“) lautete die des Männerbildnisses, „Amabat eum et vicit!“ („Sie liebte ihn und siegte!“) die des Frauenbildes.

Cilgia hing an den beiden Gemälden und konnte sich, wenn sie einsam war, andächtig in das der Frau vertiefen und über die merkwürdige Geschichte sinnen, die in den Sprüchen angedeutet war. Die meisten Besucher des Pfarrhauses aber glitten mit einem Wort oberflächlicher Teilnahme über die wertvollen Bilder hinweg. „So – so,“ sagten sie, „das sind Paolo Vergerio und Katharina Dianti, der erste reformierte Pfarrer von Pontresina und seine bessere Hälfte.“

Nur einer war gebannt wie sie vor dem hohen Liebreiz des Frauenbildes stehengeblieben und hatte die Augen fast nicht mehr davon lösen können: Markus Paltram, der vor einiger Zeit gekommen war und dem Pfarrer mit einem Wort des Dankes angezeigt hatte, daß er jetzt im Haus des Fischers Colani eingerichtet sei und seinen Beruf aufgenommen habe.

Cilgia hatte ihm versprochen, daß sie ihm die merkwürdige Geschichte des Paares erzählen werde. Aber seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.

Von der Straße ertönte in die Nachmittagsstille, die mählich in die des Abends überging, plötzlich fröhlicher Gesang. Cilgia schaute neugierig hinab. Ein Trupp Heuer und Heuerinnen aus Tirol zog unter der Anführung eines langen, hagern Burschen, der die Sense auf der Schulter im Takte zu dem Lied regte, in das Dorf. Die Mädchen trugen grüne Troddelhüte, kurze Röckchen, bunte Mieder und weiße gesteifte Aermel und sangen, wie es die Sitte beim Einzug in die Dörfer fordert.

Der Anführer, der sich zwar noch als junger Bursch gebärdete, aber wohl schon gegen die Vierzig rückte, rief zu Cilgia empor:

„Jungfrau, wo wohnt denn Markus Paltram, der Schmied, und die Jungfrau Premont?“

„Die bin ich selbst und Paltram wohnt oberhalb des Dorfes in der Hütte, an der ein Wasserrad ist.“

„Ich danke Euch, ich wollte nur die sehen, die Sigismund Gruber gerettet haben.“

Damit zogen die Tiroler weiter.

„Ich gehe die Gloria und die Gioja abholen,“ rief Cilgia ein Stündchen später in die Pfarrküche, wo Rosina, die stämmige Magd, hantierte.

Das Mädchen schreitet auf dem rauhen Pflasterweg, der zwischen den alten Stein- und Holzhäusern von Pontresina hindurchführt, gegen das Kirchlein Santa Maria hinauf, das oberhalb des Bergdorfes einsam und verträumt am Wiesenhang unter dem Wald des Piz Languard liegt.

So thut sie jeden Abend. Den Strohhut am Arm, das Haupt frei, grüßt sie die Dörfler. Nur eben spürbar giebt sie sich vornehmer als die sonstigen Leute des Thals. Sie trägt ein ebenso einfaches Kleid wie die andern Mädchen, aber statt des roten Baumwolltuchs, das diese am Werktag in den Miederschnitt setzen, verwendet sie ein feines weißes Triestinergewebe, und die kleine Kunst genügt, daß man meint, sie sei immer in duftigem Sonntagsstaat.

Hinter ihr reden die Dörfler. Das Abenteuer von Fetan hat den günstigsten Ausgang genommen, den man sich denken kann. Obgleich es landauf, landab erzählt wurde, ist keine Klage aus Frankreich eingelaufen.

Und was für einen haben Cilgia Premont und Markus Paltram dem französischen Standrecht entzogen? Den jüngern Sohn des bekanntesten und reichsten Tiroler Händlers.

Man höre nur Säumer wie Tuons über den Vater des Flüchtlings erzählen: „Lorenz Gruber ist der Holzkäufer der Salzpfanne in Hall; die Leute im vordern Tirol nennen ihn deswegen nur den ‚Waldtöter‘, und es geht die Redensart, die Tannen fangen an zu zittern, wenn er durch einen Wald schreite. Dazu ist er in Handelssachen der Vertrauensmann tirolischer Klöster, und wenn auf den Straßen zwischen Landeck, Bozen und Tirano eine Fuhre geht und man fragt: ‚Wessen ist der Saum?‘ so lautet die Antwort immer gleich: ‚Lorenzen Grubers auf dem Suldenhof im Suldenthal.‘

Von dem Jungen freilich weiß man nur wenig – er hilft mit seinem Bruder dem Vater im Handel. Aber das weiß man, daß Sigismund Gruber kein Spion, sondern ein ehrlicher, tapferer Landstürmler gewesen ist.“

Davon plaudern die Leute, wenn Cilgia am Abend mit ihrem Buch zum Kirchlein Santa Maria emporwandert.

Vom ersten Tag an, da sie nach Pontresina kam, liebt sie das stimmungsvolle, altehrwürdige Gotteshaus, den Kirchhof darum her, über dessen Gräberterrassen Gras und Nelken fluten, und den weiten, friedevollen Blick der Aussicht.

Unter dem altväterischen Bergdörfchen rauscht, halb in Wald und Kluft verborgen, der Berninabach und stäubt seinen Wasserduft empor. Jenseits klettern die Tannen wie kämpfende Helden am jähen Felsen und hinter ihnen schimmern am Abend rosenrot die höchsten Spitzen des Berninagebirges, ein Riesenblumenkelch voll Schönheit und Duft.

Heute freilich sind die Berge nicht so klar, durch goldene Wolkenränder zieht die Sonne Wasser, die Spitzen sind umzogen mit blauem Rauch.

Cilgia sitzt auf dem Bänkchen am Thor und nicht weit von ihr gräbt der alte Mesner, das graue, dürre Männchen, ein frisches Grab. Es ist für einen Viehknecht, der lahm und nichts mehr nütze war.

Cilgia verbinden lieblichere Vorstellungen als die des Todes mit Santa Maria.

Unter dem steinernen Thorbogen des Kirchleins, der die Jahreszahl 1497 eingehauen trägt, ist jenes Liebespaar hindurchgeschritten, dessen Schicksal wie ihr eigenes Gedenken goldene Fäden zwischen Adria und Hochland zieht, Paolo Vergerio und Katharina Dianti, die vornehme Istrianerin, die nach Pontresina hinaufgestiegen ist, um die erste protestantische Pfarrerin des Ortes zu werden.

Und hier gedenkt sie ihrer eigenen sonnigen Kindheit zu Triest.

Ein Garten taucht vor ihr auf mit dunklem Lorbeer, spinnenden Rosen und wächsernen Kamelien, ein weißes Haus mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0616.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2019)