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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie stand mit brennenden Wangen, so daß der Pfarrer über ihre Heftigkeit erschrak.

„Ich würde sagen: Als der Ritter die Schuld seiner Mutter erfahren hatte, zweifelte er wohl an der Hoheit der Frauen. Es wuchs aber ein Mädchen im Volk, das widerstand ihm und besiegte ihn mit seiner Liebe, seiner Standhaftigkeit und Reinheit.“

Ein herrliches Metall bebte in ihrer Stimme und erstaunt wie zu Samaden sah der Pfarrer zu seiner Nichte auf.

„Kind – was liegt alles in deinen siegreichen Augen!“ versetzte er erschrocken. „Cilgia, dich und dein Geschlecht habe ich gewiß nicht beleidigen wollen, als ich dir die Sage erzählte. Nein, gewiß nicht! –“

Sie streckte ihm mit einem guten Lächeln die Hand hin.

„Ich halte die Sage aber,“ fuhr der Pfarrer fort, „nicht für wertlos. Es giebt in unsern Bergen, in stillen Wäldern verborgen, abgründige Seen, abgründig sind die Spalten der Gletscher, Abgründe gähnen im Volk, und wenn du in der Geschichte Bündens blätterst, so wirst du die Gestalten schon erkennen, die den unerforschlichen Seen und den unergründlichen Spalten gleichen. Ueberall aber hat die Natur zu den Gefahren die Warnung gestellt: um die Seen ohne Grund schwankt das Ufer und der reine weiße Schnee der Berge flimmert, wo unter ihm die Eiskluft verborgen liegt, gelb und falsch. Solch eine Warnung ist die Sage von den Camogaskersöhnen, sie ist ein Schild, den die feine Witterung des Volks vor abgründigen Seelen erhebt.“

Cilgia war sehr ernst. „Ist es nicht auch denkbar, Onkel,“ fragte sie nachdenklich, „daß das Volk irrt, einmal Einem ungerecht das Wort ‚Camogasker‘ zuschreit und den Fluchfaden des Mißtrauens um ihn zieht? Dann sagt sich der Getroffene: Gut, wenn ihr mich zum Camogasker macht, so will ich einer sein! Und er geht in Wut und Verzweiflung hin und wird ein Abgründiger.“

„Es ist kein Fertigwerden mit dir, Kind!“ versetzte der Pfarrer.

Nichte und Onkel redeten noch lange in die Nacht. Die Brandfackel an der Bergwand war verloht, das Gewitter braute nur noch im Rosegthal.

„Und morgen kommt also Lorenz Gruber!“ sagte der Pfarrer zum Gutenachtgruß.

Am Morgen aber, an dem der alte Gruber kam, mußte sich Cilgia zuerst auf einen thörichten Traum besinnen.

Auf einer Alpe, über der ein schöner weißer Berg stand, gingen zwei Kinder, sie sangen und pflückten Bergveilchen und Soldanellen. Da sahen sie am Rand des Gletschers über der Alpe ein weißes Gerippe, das ein Gewehr quer über die Knie hielt, auf einem Felsblock sitzen und sich sonnen. Sie zeigten es einander, der Knabe aber sagte: „Was geht uns der dort oben an?“ Da reckte sich das Gerippe klappernd in die Höhe, wuchs und strahlte in der Sonne. In wildem Schrecken sprang der Knabe davon und vor den Augen des Kindes in den Abgrund. Da war der Stürzende plötzlich Paltram und sie das andere Kind. Und mit einem mitleidigen Lächeln, doch ohne tieferes Herzeleid, warf sie ihm eine Blume nach, daß er nicht einsam schlafe.

Das war der sonderbare Traum.


4.

Der Gast aus Tirol ist da und hat von Cilgia schon seinen Uebernamen bekommen. Den „Erzvater“ nennt sie ihn im stillen bei sich.

Sein schwerer, prunkender Gurt mit dem reichen, silbergetriebenen Schmuck und die Thaler, die er statt der Knöpfe am Rocke trägt, haben ihren Widerspruch geweckt.

„Ja, und so ist’s halt gegangen. Wie’s auf allen Kirchen stundenlang gestürmt hat, da sind auch meine zwei Buben mit den Büchsen davon geeilt. Es war wohl so Pflicht. Der Aeltere, der Frau und ein Kind hat, ist zur rechten Zeit wiedergekommen – aber der Sigmund, das Büberl, nicht.“

Mit rollender Baßstimme, die seinem Bericht ein eigenartiges Gewicht und Ansehen gab, erzählte Gruber.

„Das Büberl?“ warf Cilgia drollig ein. „Er ist ja ein großer, starker Mann.“

Der Alte sah sie, den breiten, grauen Bart, der die Brust bedeckte, streichelnd, mit einem verwunderten Blick der von schweren, dreizackigen Brauen überschatteten Augen an, und der Pfarrer lachte für sich.

Cilgia aber that, als sähe sie die Furchen auf der mächtigen Stirne Grubers nicht, und blickte ihn mit ihren schönen, großen Augen schelmisch zutraulich an.

Da fuhr er fort: „Das Büberl, sage ich, Fräulein, weil er der Jüngste geblieben ist. Und mein Bub ist er halt sein Lebtag, sogar wenn er siebzig wird. Also, wir sitzen eine Nacht auf, zwei, warten auf ihn, beten, die Alte und ich, und je länger, je ängster ist uns worden. Und die Toten haben sie gebracht von Finstermünz herauf, Tag und Nacht, und wenn wieder eine Fuhre gekommen ist, so haben sie das Glöcklein geläutet. Und ich und meine Alte haben bei jedem neuen Stoß gedacht: Jetzt bringen’s ihn. Und der Pfarrer ist gekommen und hat gesagt: ,Lorenz Gruber, ich thäte die Kerzen für den Sigismund anzünden, er ist unter den sechs gewesen, die am Inn hinauf versprengt worden sind. Er wird ins Standrecht gekommen sein und wo er ruht, das weiß der im Himmel.‘ Dämlich ist mir worden und die Kerzen haben wir um sein Bett angezündet und doch keinen Toten gehabt.“

Der Erzähler mit seinem gemütswarmen Ton gefiel Cilgia immer besser. Nein, Lorenz Gruber war kein Protz – und teilnahmsvoll ruhten ihre Blicke auf dem derben Gesicht, das so viel Wärme nicht vermuten ließ.

„Ich liege so die vierte Nacht, schlafe nicht, denke an den Sigismund, wo ihn wohl der Boden deckt, die Alte schüttet in des Buben Kammer dem Herrgott ihr Herz aus und ich denke g’rad’: Es nutzt dir nichts! Da pocht es an die Thüre: ‚Mutter! Mutter!‘ – Es ist der Sigismund. Wir ziehen den Buben in die Stube, er hat den Kopf verbunden, die Wangen glühen im Fieber wie Rosen, aber er lebt. Geweint hat die Alte vor Freude. Drei Wochen ist er dann noch gelegen, ruhelos und sinnlos hat er geredet und ich und meine Alte haben gesagt: ,Jrre ist er worden von dem Vielen, was er erlebt hat.‘ Wie er aber wieder zu Verstand gekommen ist, hat doch alles Sinn gehabt, was er in den Fiebern zusammengeschwatzt hat. – Und was hat er geredet, Fräulein?“ unterbrach der Erzähler sich selbst und sah Cilgia vielsagend und mit gutem väterlichen Blick an; sie aber erhob sich etwas unsicher, machte sich mit dem Geschirr auf dem Tisch zu schaffen und war zum Rückzug in die Küche bereit.

Da legte Gruber seine schwere Pranze auf ihre leichte Hand. „Geht nicht, Fräulein, thut mir das nicht zu leid; ich bin ja eigens wegen Euch ins Engadin gekommen!“

Wie artig dieser alte Tiroler Bär bitten konnte, wie die gescheiten Augen aus dem verwetterten Gesicht leuchteten! Und jetzt reichte er ihr aufstehend die Hand.

„Ich will keine großen Geschichten machen, Cilgia. – Ich kann nicht gut ‚Fräulein‘ sagen, aber – –“

Da bebte die tiefe Stimme des Alten unsicher. Er ließ ihre Hand los und wandte sich ab und eine feierliche Stille entstand.

„Es geht mir halt, wie’s meinem Buben gegangen ist,“ sprach er, indem er sich gefaßt zurückwandte, „er hat gesagt, es sei ihm noch kein Muttergottesbild im Tirolerland so lieblich erschienen wie Ihr.“

Cilgia wußte nicht, wohin blicken vor Scham und Verlegenheit.

Der schwerfällige Gruber tappte zu seiner Geldkatze, schloß sie auf und wandte sich wieder an sie:

„Darf ich Euch das geben, Cilgia, es ist eine Arbeit des Goldschmiedes Jffinger in Innsbruck. Ich habe ein paar Worte für Euch dareingraben lassen.“

Und in seinen klobigen Fingern hielt er ihr ein kunstreiches Halskettelchen mit einem Medaillon hin, öffnete es behaglich, und sie las: „Cilgia Premont zum Andenken an eine Rettung in Fetan. Der dankbare Vater: Lorenz Gruber.“

Sie wurde rot, dann blaß, aber als er ihr die Kette mit väterlicher Freude um den Hals legen wollte, wehrte sie ihm:

„Es geht nicht, Herr Gruber, ich danke Euch vielmal, aber ganz bestimmt lehne ich das Geschenk ab.“

„Ihr weist es ab?“ grollte Gruber, und der Pfarrer mußte seiner Nichte zu Hilfe kommen.

Er meinte, er habe seiner Lebtag nichts Fröhlicheres erlebt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0620.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)