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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der Dichter selbst häufig unterstützte; Schlosser legte sich eine Goethebibliothek an, die wohl einzig in ihrer Art war und beständig bereichert wurde. Als die Nachricht von dem Hingang Goethes eintraf, schrieb er an den gemeinsamen Freund Sulpice Boisserée:

„Von unserer Kindheit an hatte Goethes Gestirn mit immer gleichem Glanze über uns gestrahlt; Generationen waren neben ihm aufgeblüht und dahingewelkt; manches schön aufstrebende Talent, manches reiche Gemüt hatte sich wenigstens in Perioden der Entwicklung an ihn gerankt und seine Einwirkungen aufgenommen – und wie manche der uns theuersten unter diesen deckt längst das Grab, während wir uns gewöhnt hatten, dem alten Heros gewissermaßen eine Art physischer Unsterblichkeit beizulegen. In ihm und in dem im verflossenen Jahre geschiedenen Minister v. Stein starben die beiden kräftigsten Heldennaturen, die mir im Leben begegnet.“

Man begreift, daß Menschen, wie das Schlossersche Paar, ganz dazu bestimmt erschienen, dem Herzen Mariannens das zu gewähren, was sie nach dem Tode des Freundes und dem gegen Ende der dreißiger Jahre erfolgten Ableben ihres Gatten entbehren mußte. Namentlich fühlten sich, wie bereits angedeutet, die beiden Frauen voneinander angezogen. Das Band zwischen den Familien Willemer und Schlosser war schon früh geknüpft worden, und zwar durch die gemeinsamen Beziehungen zu Goethe. Jetzt, nach dem Tode des Dichters, schloß das gemeinsame Bedürfnis, dem Andenken an den großen Toten gegenseitig Ausdruck zu geben, die Drei noch enger zusammen.

J. W. v. Goethe.
Nach dem Gemälde von G. v. Kügelgen aus dem Jahre 1810.

Nachdem Marianne als Witwe die Gerbermühle veräußert hatte, wohnte sie während der Wintermonate in einem behaglichen Heim innerhalb der Stadt; in der schönen Jahreszeit aber weilte sie häufig, oft ständig als Gast auf Stift Neuburg bei Heidelberg, mit welcher Stadt sich so schöne Erinnerungen verbanden! Im Umgange mit Rat Schlosser und dessen Gattin bewahrte sie sich bis ins Alter die Frische des Geistes und Heiterkeit des Gemütes, deren sie sich seit früher Jugend erfreut hatte. In ihrer Winterwohnung war sie nicht selten von Künstlern und Gelehrten, immer mit Büchern und Schriften umgeben, durch welche sie ihr Wissen fortgesetzt bereicherte. Den Nachruhm Goethes verfolgte sie mit Eifer, ohne daß sie es liebte, von dem Dichter mehr zu sprechen, als dringende Umstände es verlangten. Ein kostbares Vermächtnis war ihr Goethes Briefwechsel, den sie mit Pietät und Verständnis ordnete und sichtete. Auf Stift Neuburg, wo sie im Laufe der Jahre mit vielen hervorragenden Männern der Wissenschaft bekannt geworden, weilte sie übrigens zum letztenmal im Herbst des Jahres 1860. Schon war sie den Schloßberg, nachdem sie Abschied genommen hatte, halben Wegs heruntergefahren, als sie plötzlich ein liegengebliebenes Häubchen vermißte. Sie gab dem Kutscher Befehl, umzukehren, besann sich aber wieder eines andern, indem sie es als glückliches Omen für ihre Wiederkehr hielt, wenn einer ihrer Gegenstände in dem lieben Hause zurückblieb.

Am 6. Dezember des gleichen Jahres entschlief sie, die allen, welche ihr auf dem Lebensweg begegnet waren, nur Freude bereitet hatte. Ihr Briefwechsel mit Goethe blieb weiter der Oeffentlichkeit entzogen. Als ihn 1877 der Frankfurter Goetheforscher Theodor Creizenach herausgab, fand der Wert dieser Kostbarkeiten aus dem Erbe zweier Dichternaturen sogleich allgemeinste Würdigung.

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Vieles, was außer diesem Briefwechsel an die seltene Frau gemahnt, ist, wie ich wußte, auf Stift Neuburg bewahrt, dessen jetziger Besitzer, Freiherr Alexander von Bernus, die Gegenstände in treue Hut und Pflege genommen hat. Mit einer Empfehlung von einem Verwandten des Schloßherrn an diesen wurde es mir nicht schwer, in den nur dreiviertel Stunden von Heidelberg entfernten, reizvoll gelegenen Landsitz Zutritt zu erhalten. Von der Stadt führt der Weg über die Neckarbrücke, dann flußaufwärts der Straße entlang, an fruchtbeladenen Weinbergen vorbei, während rechts die malerische Schloßruine aus Waldesgrün herübergrüßt. Bald nachdem ich um einen Bergesrücken gebogen, gewahrte ich die hart am Neckarufer sich erhebende Stiftsmühle und hoch über derselben das noch immer an seinen einst klösterlichen Zweck erinnernde Stift. Nachdem ich, die Fahrstraße meidend, den von rückwärts über den Schloßberg, an dichtem Buschwerk und einem kleinen Weiher vorbeiführenden Fußweg emporgestiegen, stand ich bald vor dem Eingange zu dem Edelsitze. Es dauerte nicht lange, so war ich mit wohlthuender Gastlichkeit aufgenommen.

Der Schloßherr selbst führte mich umher, zunächst durch mehrere Gänge, deren Wände mit Kupferstichen, Radierungen und Gemälden bedeckt waren, in die Bibliothek. Diese weist noch immer, nachdem viele Bestandteile laut Testamentsbestimmung in andere Bibliotheken übergegangen sind, eine ansehnliche Fülle von wissenschaftlicher und schöngeistiger Litteratur auf. Der sogenannte gotische Saal, den wir hierauf betraten, entstand aus dem zu einem Museum umgewandelten Schiff der alten Stiftskirche. Hier erblickt man zunächst treffliche Gemälde; neben historischen Bildern und Landschaften die Bildnisse von Familiengliedern des Hauses, unter denen das des Schlosserschen Paares das erste Interesse beansprucht. Unverkennbar ist in dem Gesichte des Mannes das gefestigte Wesen seines Charakters ausgedrückt, in dem Antlitze der Gattin, der „gestrengen Frau Rat“, wie sie schon in jungen Jahren ob ihrer ernsten Würde genannt wurde, die seltene Verbindung von frauenhafter Gemütswärme mit einem fast männlichen Geist. Ein besonders stimmungsvoller Raum ist das einstige Studierzimmer des Rates; der gotische Ueberrest einer Kapelle aus alter Zeit, im Gemüte des Besuchers fast Andacht erweckend, erscheint er wie geschaffen für die Thätigkeit Schlossers. Dieselbe – weniger freischaffend als reproduktiv – erstreckte sich hauptsächlich auf Übersetzungen poetischer Werke aus fremden Sprachen, so übertrug er Fauriels neugriechische Lieder. Sein Hauptwerk ist „Die Kirche in ihren Liedern durch alle Jahrhunderte.“ Eine Uebersetzung von Goethes „Freudvoll und leidvoll“ in zwölf Sprachen widmete er „huldigend“ der „Frau Geheimeräthin von Willemer“.

Eine eigene Abteilung ist der Erinnerung an Marianne v. Willemer geweiht. Zahlreiche Bildnisse zeigen sie in allen Abschnitten ihres Daseins, vom neckischen Mädchen bis hinauf zu der ruhig betrachtenden Matrone, immer aber heiter in die Welt schauend, im Alter noch ein anmutendes Frauenbild. Nicht fern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0627.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2022)