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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Photographie, die ich von ihr hatte, mußt’ ich heute hergeben; sie verschenkte sie weiter –“

Er sagte doch lieber nicht, an wen.

„Gut,“ antwortete Julius gleichgültig; er schaute schon nicht mehr hin. „So nimm dir eine.“

„Darf ich wählen?“

„Ja.“

Hans deutete mit dem Finger auf das Bild, das er eben sah. „Die da ist ausgezeichnet, Onkel; die im Bergwandererkostüm. Kann ich die nehmen?“

Julius nickte. Er zog die Photographie aus dem Album heraus und hielt sie ihm hin; dabei warf er noch einen Blick darauf. „O ja,“ sagte er, „ein gutes Bild; nur etwas verblaßt. Das ließ ich in der Schweiz machen, als wir beide sogenannte Bergfexe waren, mit Leidenschaft auf die ,Pics‘ und ,Pize‘ stiegen; – da waren wir beträchtlich jünger als jetzt …“ Er lächelte, in langsam aufsteigender Wehmut; er hielt die Photographie besser zum Lampenlicht. „Ja, das war in Pontresina. – Ein gutes Bild. Ganz das unternehmende, frische, feurige Gesicht; und die elastische, unermüdliche Gestalt! – Vier, fünf Wochen wanderten wir damals in der Schweiz und in Tirol herum; fast jede Nacht ein neues Quartier. Diesen Alpenstock“ – er lächelte wieder – „den sie so kriegerisch in der Hand hält, wie die Jungfrau von Orleans ihre Fahne, den verlor sie den Tag darauf; er rollte in den Abgrund. Bei einem Haar rollte sie ihm nach. – – Weißt du, nimm lieber ein andres Bild. Dies da – zur Erinnerung sollt’ ich’s doch behalten. Das ganze Album ist voll; also Auswahl genug!“

Hans nickte und blätterte zurück. „Da war eins, das mir auch sehr gefiel; im Reitkleid. Da ist es.“

„Gut, also nimm’s!“

Indem Julius es herausziehen wollte, sah er es noch einmal an. „Ja, ja, damals lernte sie reiten; als junge Frau: denn als Mädchen war sie nicht aufs Pferd gekommen, ihre ängstliche Mutter hatt’ es nicht gelitten. Sie lächelt auf dem Bild, rein vor Glück. ,Reiten ist der Himmel,‘ sagte sie damals, ,Reiten ist das Paradies!‘ – – Ein kindlich triumphierendes Lächeln. Ich glaube, so kann das nur ’ne Frau! – – Mein lieber Junge, das Bild ist nicht gut; zu wenig Form im Gesicht, zu viel retouchiert; aber ich – wenn ich’s ansehe, wird es mir lebendig; ich seh’ wieder die Wangen glühn und die Augen leuchten. Diese Reiterin – nein, die geb’ ich doch nicht her. Such’ dir eine andre; von der Infanterie!“

Er macht wieder Witze, dachte Hans sehr verwundert. Auf die Kavallerie verzichtend, blätterte er weiter zurück. „Da ist eine, die sitzt und liest. Die find’ ich vortrefflich.“

„Findest du?“ – Julius betrachtete sie nun auch, zuerst nur von der Seite. „Das ist der wahre Gegensatz zu der Reiterin! So ernsthaft still, wie man nur sein kann; träumend, weltvergessen. – Des Gegensatzes wegen sollt’ ich das Bild eigentlich behalten; – aber nimm es hin!“

Er zog es heraus, hielt es Hans entgegen; der griff danach.

Julius hielt es aber noch fest: „einen Augenblick!“ Er betrachtete es aufmerksamer. „Das Bild hab’ ich selbst gemacht; ich glaube, damit fing mein Photographieren an. Ja, ja. Sie hatte zum erstenmal Lord Byrons ‚Manfred‘ gelesen; ich fand sie grade, als sie so ergriffen, in das Buch versunken dasaß; mit einem fremden, beinah rätselhaften Gesicht. Könnt’ ich das festhalten, dacht’ ich! So entstand diese Photographie …“

Er ruhte noch mit den Augen darauf; eigentlich sah er sie aber nicht mehr. Es ward ihm so wohl und weh ums Herz. O ja, dachte er, eine merkwürdige Frau. Was für eine Frau. So viele, viele Geister in der einen Seele. Ein Proteus … Aber ach –!

Er versank in sich.

Hans wartete eine Weile; dann fragte er schüchtern: „Also – behalte ich dieses Bild?“

Julius blickte auf. Er lächelte: „Du hast’s ja noch nicht.“ Nach einem stummen Blick auf den Jüngling – was er für Augen hat! dachte Hans – steckte er die Photographie wieder an ihren Platz. „Ich kann dir’s nicht geben, Junge. Es hängt etwas daran; eine Erinnerung, mein’ ich. Nimm irgend ein anderes Bild, das mir nichts bedeutet.“

„Gieb mir doch, welches du willst!“ sagte Hans.

„Also dieses da. Im antiken Kostüm; mit Schleier und Diadem;“ Julius’ Gesicht verzog sich: „als ‚lebendes Bild‘. Aus der Zeit, als sie anfing, die Statuen aus dem Altertum zu spielen – in Drapierungen und Stellungen zu glänzen –“

Er sprach nicht weiter. Ein bitterer Geschmack trat ihm auf die Zunge, wie an diesem Nachmittag. Bis es nun damit endet, dachte er, daß Centauren und Silene ihr dort Beifall klatschen, während ich hier im Mondschein durch den Garten irre …

Weg mit diesem Bild!

Er begann es herauszuziehn; dabei blickte es ihn noch einmal an. O, sie weiß warum! ging ihm durch den Sinn, während seine Augen es wider Willen anstarrten: das Antike steht ihr so gut. Es macht sie vornehm und edel; es legt gleichsam den Zeigefinger auf die Poesie ihrer Gestalt, es giebt ihren Augen Stimme … Diese Bilder machen mich verrückt!

Er ließ das Album auf den Schreibtisch fallen. – Um diese Bewegung wieder harmlos zu machen, fragte er, ohne Hans anzusehn: „Hast du endlich gewählt?“

„Du wolltest ja für mich wählen, Onkel.“

„Wollt’ ich das? – Na, gut!“

„Soll ich das lebende Bild da nehmen?“ fragte Hans und griff nach dem Buch.

Julius zog es ihm fort: „Nein, nein, nein! Die nicht! – Versteh mich, mein Junge – um des Kostüms willen muß ich sie behalten. In diesem Kostüm ist sie eben eine andere; und diese andre ergänzt sie; und aus all den Ergänzungen wird ja erst der ganze Mensch. Reiß’ ich ein Blatt heraus, ist das Buch verstümmelt …“

Er sah die aufhorchende, wachsende Verwunderung auf Hansens Gesicht; mit einem fast verlegenen Lächeln brach er ab. „Du verstehst,“ murmelte er nur noch.

„O ja,“ erwiderte Hans treuherzig. „Verzeih, daran dacht’ ich nicht. Dann verzicht’ ich, Onkel.“

„Warte, warte; wir finden vielleicht –!“

Julius blätterte noch weiter zurück; Hans trat aber bescheiden zwei Schritte weg, als wär’s schon zu Ende. „Im Ballkleid; – das ist nichts für dich. – Auf einer Rasenbank liegend, träumend; hier im Garten …“ Julius schüttelte den Kopf und schlug um.

„Im Morgenkleid! – Auch von mir. Bei meinen Blumen im Treibhaus; mit der Gießkanne; das jüngste Bild, vor zwei Jahren gemacht. Damals versuchte sie mir nachzueifern und meine Blumen mütterlich zu pflegen; du kannst dir wohl denken, es stand ihr gut …“

Er versank in das Bild und in sich. Wieder wie anders! dachte er, einen körperlichen Schmerz in der Brust. Wie die größte, sonderbarste, veredeltste unter all den Blumen. Holde Mütterlichkeit in dem noch so frischen Gesicht. Die letzte goldene Zeit! – Dann fing diese Unruhe an, wieder jung zu sein, dieser Lebenstaumel … Ach, ist es denn nun wirklich vorbei? Seh’ ich sie nie mehr so? Soll ich ihr nie wieder zu Füßen sinken wie damals, und verjüngt, verliebt – –

Er hörte Hans, der vor Ungeduld einen Fuß bewegte, erschrak und blickte auf. Wie kam er zu diesen Gedanken – und zu diesen Bildern. Weg, weg, weg damit …

Er legte das Buch wieder auf den Tisch; dann ging er durchs Zimmer. So lange war er in der Nacht umhergegangen, bis er ruhig wurde; nun war wieder alles hin!

Hans sah ihm bedenklich nach. Das kommt von dem Buch, dachte er; das hat ihn so aufgeregt. Es war eine Dummheit, daß Luise ihm das Album schickte!

Julius kam langsam zurück; „ja so, du bist noch da!“ sagte er. Sein gewohntes Schicksal: er vergaß so leicht, daß der Junge da war. „Also die Photographie! – Es ist komisch: ich finde keine für dich. Jede gehört –“

„Zum Ganzen,“ fiel Hans ein. „Ich versteh’ das. Ich verzichte, Onkel. Ein andermal, wenn eine neue gemacht wird –“

„Dann gewiß, gewiß! – – Nun aber endlich zu Bett. Ich darf’s nicht dulden, daß du länger aufbleibst. Und ich – will auch schlafen …“

Es war ihm nur, als hätt’ er jede Möglichkeit des Schlafs verloren für diese Nacht. Er trat wieder an den Tisch, es zog ihn förmlich. Das Album war noch offen; die Clotilde mit der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0635.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)