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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Gießkanne, die „mütterliche“, schaute ihn noch mit den herzlichen Augen an. Was für ein Blick das ist! dachte er. Ach, ich könnte jetzt – –

Die Stutzuhr begann zu schlagen. Er fuhr zusammen.

„Also Gute Nacht, Onkel!“ sagte Hans. „Wahrhaftig, es schlägt schon Mitternacht.“

„Mitternacht!“

Julius drückte die Augen zu. Also aus und vorbei. Also morgen fort!

Er sammelte sich zu männlicher Ruhe. Alte Gewohnheiten sind oft die besten Helfer; ihn unterstützte sein Ordnungssinn. Bedächtig schlug er das Album zu und ließ die Krampen einspringen; dann legte er ein andres Buch darauf. „Bitte, lösch die Lampe, Hans, eh’ du gehst. Geh aber auch gewiß. Gute Nacht!“

Die große, magere Gestalt schritt ehrenfest in den Salon hinaus.

So hab’ ich ihn vielleicht noch nie gesehn, dachte Hans. Wie komisch ihm das zu Herzen ging, daß es zwölfe schlug! – Ueberhaupt, ich glaube – – Was? – Ich weiß es nicht. – Ich bin auch viel zu müde, um noch viel zu denken. Ich bin höllisch müde. Wenn Jeannette von Lossow etwa meinen sollte, ich werd’ heute nacht um ihretwillen nicht schlafen – furchtbar schlafen werd’ ich!

Er wollte zum Schreibtisch gehn, unbewußt, mechanisch, um die Lampe zu löschen; ihm fiel aber wieder das infame Wort „Centaurin“ ein und schüttelte ihn. „Das junge Weibchen mit dem Pferdeherzen“ … Ihm ward so zuwider zu Mut, daß er einfach aus der Thür ging; die Lampe war vergessen. Centaurin! Centaurin! Das Wort kam ihm immer wieder, während er über den Korridor zu seinem Zimmer schlich. Am Ende seh’ ich sie heut nacht im Traum als wirkliche Centaurin über die Koppel galoppieren – und hör’ mich wiehern als Stronzian!

14.

Die drei „Nachtwandler“, Clotilde, Luise und Friedrich, waren elbaufwärts marschiert, über Loschwitz, Niederpoyritz, Hosterwitz; dann über die Höhen ins Land hinein. Bis Hosterwitz ging Clotilde wie die andern ihren guten Schritt; als sie aber die Hügel anstiegen, schämte sie sich sehr: sie, die ewig Elastische, die Bergsteigerin, fühlte eine Müdigkeit in den Knien, die in wahrhaft verächtlicher Weise wuchs. Was war denn mit ihr geschehn? War sie plötzlich alt geworden? Oder hatten diese wilden Wochen, diese Jagd von Sport zu Sport, von „Vergnügen“ zu „Vergnügen“, sie doch heimtückisch ausgesogen und zu einer Art von schöner Ruine gemacht? – Sie sah den schweigsamen Friedrich von der Seite an, der neben ihr so gleichmäßig dahinstapfte: verstellte er sich nur? ward er auch schon müde? Nein, es war ihm nichts anzumerken. Er schritt beleidigend tapfer fort. Vollends die Gazelle auf der andern Seite, die lange, schlanke Luise, die von Zeit zu Zeit ein süddeutsches oder ein heimatliches Liedchen in die Mondnacht hineinträllerte … Ja, ja, dachte Clotilde mit mütterlich gönnendem Neid, die hat vernünftig, natürlich gelebt! Das hat ihre Mutter wohl nicht gethan; – dafür wird sie sich nun aber zusammennehmen; niemand soll was merken. Wenn man in so ’nem braunen Pilgermantel geht … Auf der Bußfahrt. Laß dir die Knie nur weh thun. Das thut dir gut!

Sie sang nicht wie die Tochter, aber mit einem hellen, heiteren Gesicht wie der Mond – dann freilich wieder plötzlich bange: ach, wie wird es enden? – wanderte sie ihre Straße fort.

Endlich kamen sie auf den Gutshof; vor ihnen lag das alte, zum Teil erneuerte hellgraue Haus. In Julius’ Schlafzimmer sahen sie noch Licht. Sie gingen leiser heran; Friedrich schloß die Hausthür mit dem Schlüssel auf, den Julius ihm vor Monaten für alle Fälle mitgegeben und den er beim Abmarsch nicht vergessen hatte. Auch eine kleine, zierliche Laterne hatte der Vorsorgliche mitgenommen; damit leuchtete er nun den Damen im Haus, auf dem Korridor. Alles um sie her war still. Luise ging ungeduldig, aber auf den Zehen, voran: sie trat zuerst in des Vaters Arbeitszimmer. „Was ist das?“ flüsterte sie. „Hier brennt noch die Lampe?“

Clotilde folgte ihr in starker, heimlicher Bewegung; sie sah wie im Traum umher. „Ja, das ist sonderbar,“ erwiderte sie; es beschäftigte sie aber nicht. Ihr war der ganze Raum so merkwürdig; als hätte sie ihn früher mit andern Augen gesehn. Die schön gebundenen Bücher in den altertümlich geschnitzten Gestellen, die herrlich gediehenen Pflanzen, die Geweihe und Waffen, die edlen Bilder, alles schien ihr heut so stimmungsvoll; und so menschenwürdig. Nur über den braunen Mantel, den andern, der auf den Schultern der Flora hing, flog sie ein kleines Lächeln an; und auf dem Postament gegenüber fehlte die Fortuna …

Friedrich war draußen geblieben. Luise legte einen Arm um Clotilde: „Soll ich dir was sagen, Mutter? Weißt du, was ich mir ausgedacht hab’? Ich geh’ jetzt in den dunklen Salon, neben seinem Schlafzimmer, setz’ mich ans Klavier, spiel’ sein altes Lieblingsstück, die ,Adelaide‘; leise, aber doch, daß er’s merkt. Oder wenn er schon schläft – er hat zwar noch Licht – na, dann werd’ ich lauter spielen, bis er endlich aufwacht. Und dann wird er horchen – und wird sich wundern: was ist denn da für ein Heinzelmännchen gekommen, das mir meine Musik macht? Und wird aufstehn und kommen; ich versteck’ mich aber –“

Clotilde faßte ängstlich Luisens Arm: „Ja, ja! Aber nicht zu früh. Ich – bin noch nicht so weit. Geh ans Klavier, ja, ja; aber fang’ nicht gleich zu spielen an, wart’ noch fünf Minuten, hörst du? bis ich hier, am Schreibtisch – –“

Es kam ein verschämtes Erröten über sie, vor dem eignen Kind. „Laß mich nur und geh! – – Ach, du meine gute Luise. Bist noch so jung, so jung, und über dein Leben kommt schon so – Wunderbares, Unaussprechliches. Das man besser nie erlebte …“

„Ich hab’ dich aber so lieb!“ flüsterte Luise, umschlang sie und küßte sie auf die heiße Wange.

Clotilde lächelte glücklich. „Geh!“

Luise, immer auf den Zehen, trat in den Salon: sie machte die Thür hinter sich zu. Auf einmal schlug Clotilden das Herz so stark. Das Schmerzgefühl in den matten Knien war vergangen, dafür zog ihr die Unruhe, die Bangigkeit nun durch alle Glieder. Sie wollte an seinem Arbeitstisch schreiben, für ihn; er sollte ihre Worte lesen, ehe er sie sähe. Aber auch davor fürchtete sie sich jetzt; ihr war, als sähe sie schon sein ernstes, ungläubiges Gesicht, das auf seine Stirn geschriebene „Zu spät“; und alles, was sie fühlte, was sie ihm bekennen, was sie hinausweinen wollte, floh ihr wie zurückgeschrecktes Blut wieder dem Herzen zu. Sie konnte noch nicht … Sie schloß die Glasthür zum Garten auf und öffnete sie, frische Luft zu schöpfen. Der Hauch der Nacht that ihr gut; er belebte sie, gab ihr wieder Mut. Sie wehte ihn sich mit der Hand ins Gesicht. Die Thür offen lassend, um mehr Luft zu haben, ging sie dann endlich zum Schreibtisch hin, setzte sich entschlossen, nahm Papier und Feder. Sie schrieb. Ob er nicht staunen wird wie über ein Gespenst? dachte sie, während die Feder flog. Wenn ihm hier die Lampe meine Schrift beleuchtet? und dann – mich selbst?

Die Thür zum Korridor öffnete sich leise, ohne daß sie’s merkte; Hans, der vom schlafen gehenden Oheim nicht gehört sein wollte, trat mit aller Vorsicht herein. Es war ihm doch noch eingefallen, daß er die Lampe hatte brennen lassen … Jetzt erschrak er aber, da er die braune Gestalt am Schreibtisch sah. Der Onkel wieder hier? Und in Hut und Mantel? – „Onkel Julius?“ sagte er zaghaft, schlaftrunken.

Clotilde, die von ihm abgewandt schrieb, fuhr vor Schreck zusammen. Hans! Großer Gott!

Das ist ja doch nicht der Onkel! dachte Hans, dessen Verstand erwachte. Der ist größer und – –

Er sah jetzt das weibliche Haar unter dem Hut. Er erschrak nun auch: aber nur einen Augenblick. Donnerwetter! eine Dame! – Wie kam eine Dame hierher?

Unsicher, langsam trat er näher; Clotilde stand auf. Was thun? fuhr ihr durch den Kopf. Soll dieser Junge mich sehn – und alles, alles erraten? – Wie bring’ ich ihn fort? Oder, wie komm’ ich fort? – In diesem Augenblick begann Luise

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0636.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)