Seite:Die Gartenlaube (1899) 0638.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

nebenan zu spielen. Es klang gedämpft herein; aber die so oft von Julius gespielte Beethovensche „Adelaide“ war nicht zu verkennen. Zum Teufel! dachte Hans und stand in neuer Verblüffung still; Onkel Julius spielt Klavier? Und eine Dame hier in seinem Zimmer – in seinem Mantel und Hut – nach zwölf? – Ah! Ah! Ich hab’ ihn immer für einen Tugendspiegel gehalten …

Er oder ich muß fort! Das war Clotilden klar; sonst nichts. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie den Zettel aus Fannys Wettbuch, den sie ihr weggenommen, in der Tasche hatte; auf der Wanderung, im Mondlicht, hatte sie ihn gelesen. Sie griff unter ihren Mantel, zog das Blättchen geschwind hervor; mit dem konnte sie Hänschen den Mund stopfen – und zugleich ein gutes Werk an ihm thun! Rückwärts auf ihn zugehend, ohne ihm ihr Gesicht zu zeigen – nun wieder ganz die lustige „Zigeunerin“, die einen Evasstreich spielt – hielt sie ihm abgewandt den zerknitterten Zettel hin. „Lesen Sie das!“ sagte sie mit dumpfer, verstellter Stimme.

„Was heißt das?“ fragte Hans.

Sie antwortete nicht; der Zettel blieb in seiner Hand. „Lesen Sie!“ murmelte die fremde Stimme noch einmal.

Hans trat näher zur Lampe und las: „Fanny Morland fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld; Handicap-Steeplechase; Ziel: Jeannette von Lossow. Herr von Marwitz fünfhundert Mark auf Bankier Ellenberger …“

Der gute Junge verstand noch nicht; es war für seine Unschuld zu fremd; er starrte wie auf hebräische Schrift. Clotilde hatte mittlerweile die langen, dunklen Vorhänge am Fenster gesehn; da war Rettung! Sie huschte hin und verschwand darunter. Hans, sich die Stirne kratzend, las weiter: „Anton Morland desgleichen. Fanny Morland nochmals fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld“ …

„Ah! Ah!“ stieß er nun in seiner Empörung heraus. „Das ist unerhört! Das ist eine Infamie! – Eine Centaurenwirtschaft; wahrhaftig. Mit so ’nem Pferdestall will ich nichts zu thun haben; bei Gott nicht!“

Er sah umher, er suchte die rätselhafte Dame, die ihm den Zettel gegeben hatte. Wo war sie denn? Sie war fort. Nein, da stand sie, in dem Mantel und Hut! – – Nein, das war Flora. Er lief wie närrisch auf die Statue zu, dann an ihr vorbei. Jetzt blickte ihm der Mond ins Gesicht; leibhaftig, nicht durchs Glas. Die Glasthür war offen. Ah! da war sie hinaus!

Er stürzte in den Garten.

15.

Unterdessen war das Klavierspiel lauter geworden; neben Hänschens aufgeregtem Gebahren erklangen die ernsten, großen Melodien wunderbar in die Sommernacht. Clotilde trat aus ihrem Versteck hervor; die Musik ging ihr so weich durchs Herz. Was nun thun? Zu Ende schreiben? Es drängte sie, es trieb sie hin; – mitten im Zimmer blieb sie doch wieder stehn. Wenn der Junge zurückkam? zu früh? Sie hörte seine Schritte im Garten; er lief tief hinein, wie es schien. Er verfolgte vielleicht eine falsche Spur. Wenn sie ganz geschwind – –

Das Klavierspiel brach ab. Im nächsten Augenblick hörte sie Julius’ Stimme im Salon: „Hans! Willst du denn die ganze Nacht am Klavier sitzen? Bist du rein von Sinnen?“

Es war zu spät! Er war da!

„Hans!“ hörte sie Julius noch einmal, lauter. „Wo steckst du, Junge? Ich seh’ nichts. Gieb Antwort! – Ist denn in meinem Zimmer noch Licht?“

Mein Gott! dachte Clotilde erschrocken; sie hörte Schritte auf die Salonthür zu. Eh die sich aufthat, wohin? Es war nur noch eine Sekunde Zeit. Sie stand fast neben dem leeren Postament der Fortuna; ihre alte Geistesgegenwart verließ sie nicht. Mit einem kleinen Sprung war sie hinauf. Da stand sie nun ebenso wie die Flora, in braunem Mantel und Hut. Das wird er wohl nicht gleich bemerken, dachte sie, daß wir wieder zwei sind ... Und hat doch Hans eben die Flora für mich angesehn …

Julius trat ein. Er murmelte etwas vor sich hin, verdrießlich, verstört; er schien von der noch brennenden Lampe zu sprechen und auf Hans zu schelten. An Flora und „Fortuna“ vorbei, ohne sie zu sehn, ging er auf seinen Schreibtisch zu; dann neigte er sich, um die Lampe auszublasen oder auszudrehn. „Was liegt denn da?“ murmelte er zornig. „Hat er hier sogar geschrieben?“ Er nahm Clotildens Blatt in die Hand.

Ein wunderbarer Wechsel, von trocknem Verdruß zu tiefstem, nichtfassendem Staunen, ging über seine Züge. „Ich las einmal als Kind,“ fing er noch halb unbewußt an zu lesen; darauf hielt er inne. Er durchbohrte das Blatt mit den grauen Augen. Mit der leeren Hand fuhr er sich langsam, stockend, zitternd über die Stirn hin und her. Das war Clotildens Hand. Wie kam das auf diesen Tisch? – – Zuerst noch mit den Lippen, dann lautlos, regungslos, in sich hinein las er, was da stand:

„Ich las einmal als Kind ein Märchen von einem Kind. Dessen Augen waren krank geworden, und sie flohen vor der Sonne und wollten ihr Licht nicht mehr sehn. Da schickte die Sonne ihr Kind, den Mond, das Licht von ihrem Licht; das sah dem kranken Kind ins Fenster, und der milde Glanz that ihm wohl, und es ward gesund. Und durch das liebliche Sonnenkind genesen, kehrte es zur Sonne zurück und hatte sie lieb wie zuvor. – Julius! Damals wußt’ ich nicht recht, was das Märchen sollte; ich behielt es wohl, aber ich verstand es nicht. Jetzt ist mir, als wär’s für mich gemacht. Ich war jetzt dieses kranke Kind. Und ich komm’ wieder zu dir. Bist du mir noch gut? Du warst meine Sonne so viel Jahre lang; Wärme und Licht und Leben hatte ich von dir; und dazu diesen holden Mond, unser goldnes Kind“ …

Es war aus. Ohne Schluß. Julius sah auf das Blatt, als müsse noch mehr kommen; erschüttert und überrätselt und verwirrt zugleich. „Heiliger Gott!“ brach es endlich aus ihm heraus, in die tiefe Sülle. „Was soll dieses Blatt? Wer hat das hierhergelegt?“

„Ich,“ flüsterte hinter ihm eine Stimme; wenigstens klang es so.

Er horchte auf; ein leichter Schauder überlief ihn. Hatte er recht gehört, oder kam’s aus ihm? Schon während er las, War ihm gewesen, als seufze etwas hinter ihm, leise, geisterhaft; wie wenn sich’s in der Flora rührte. – Mein Ohr phantasiert, dachte er; ich hab’ überreizte Sinne. Vielleicht ist auch dieses ganze Blatt ein Wahn, eine Phantasie …

Er wandte aber doch noch langsam den Kopf. – Nein, hinter ihm stand kein Mensch. Nur die Statue da, die Flora …

Nur die Flora? Nein, noch ein Bild. Ein lebendiges – blickendes – schüchtern lächelndes. Vom Grauen befreit erkannte er’s. „Clotilde!“ rief er.

„Ja,“ sagte sie, noch befangen, zaghaft. „Verzeih. Du liebst sie ja nicht mehr, die ‚Verwandlungen‘ und Verkleidungen – und doch steh’ ich so närrisch da.“ Sie öffnete den Mantel, zeigte das griechische Gewand darunter. „Das lebende Bild, siehst du, kommt zu dir; aber als Pilgerin – als Büßerin –“

„Clotilde! Du!“

„Bitte, sag noch nichts; laß mich noch was sagen.“ Sie stieg vom Postament herunter, warf Hut und Mantel ab, auf die Erde, blieb aber dann so stehn. „Ach, wie viel wollt’ ich dir noch schreiben; aber –“

„Du hier! Plötzlich! Mitten in der Nacht!“

Sie lächelte schmerzlich freundlich: „Bis Mitternacht, hatt’st du ja verlangt. Ich bin etwas zu spät gekommen; der Weg war so weit. Mit dem Kind, zu Fuß –“

Du!“ rief er wieder aus.

„Ja, ich. Bin ich nicht oft viel, viel weiter mit dir gegangen, nur um von einem Berg in die Welt zu sehn – und sollt’ nicht diesen Lebensweg gehn, zu dir?“ Ihre frei gewordene Stimme begann nun doch zu zittern: „Um dir zu sagen, Julius: ich dank dir für mein ,goldenes Kind‘ – das mir geholfen hat, diesen Weg zu finden – ja, und für all das Licht von deinem Licht, das du ihr gegeben hast. Und – und in ihr lieb’ ich dich!“

„Clotilde!“

„Könnt’st nur auch du mich in ihr noch lieben. Und Geduld mit mir haben, bis ich – Frieden finde; bis ich ihr ähnlicher werde – oder wie du willst. – Glaub mir, Julius: diese letzte Jugend in mir, die noch so thöricht sein kann, sie hat wohl auch noch die Kraft, wieder anzufangen – noch einmal zu

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0638.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)