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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Ein Blitz – ein Schuß – ein Krach!

Die Muttergemse springt auf allen Vieren hoch auf, berührt den Boden wieder, setzt über den Felsen – stürzt mit den Füßen rudernd und fällt wenige Schritte vor ihr.

Ein stöhnendes, wehes „Oh“ entringt sich Cilgia. Der Pfarrer aber murmelt: „Ein Kapitalschuß!“

Die Tiere, die zum Wasser nachgedrängt haben, stehen einen Augenblick wie versteinert, ein gellender Pfiff tönt aus ihrer Mitte, Bewegung kommt in ihre Gruppe, wie Windessausen fliegen sie bergwärts.

„Ein tüchtiger Jäger – daß er sich nicht zeigt, bis die Tiere ihn nicht mehr sehen, das lobe ich mir!“

So spricht der Pfarrer. In seinem Jagdeifer, der ihm den Kopf rötet, sieht er es nicht, wie blaß Cilgia ist.

Sie hört ihn nicht – ihre Gedanken sind gebannt durch das rührende Bild vor ihr.

Das halbwüchsige Zicklein ist nicht geflohen, sondern der Mutter nachgelaufen; es steht neben der Alten, über deren Leib das Zucken und Zittern der Todesschauer geht und deren Füße sich wie zu einem letzten ohnmächtigen Fluchtversuch bewegen. Selber zitternd, leckt das Zicklein die Sterbenswunde.

Da regt sich’s oben in den Felsen – das Gewehr im Arm, zwei Alpenhasen auf dem Rücken, tritt Markus Paltram hinter einem Felsen hervor. Er steht überstrahlt vom Abendglanze, und über sein Gesicht geht der Triumph des glücklichen Jägers. Er steigt nicht über die Felsen herunter, er springt, er stürzt sich zu der sterbenden Gemse – das Zicklein flieht vor ihm mit einem pfeifenden, klagenden Laut von der verendenden Mutter. Paltram aber wirft sich in unheimlicher Lust und mit Augen, die wie beim Kampf zu Samaden glühen, auf den zuckenden Leib des Tieres, drängt ihm mit Stößen des Knies das Leben aus der Brust und saugt das rauchende Blut aus der Wunde am Hals!

Die entsetzten Augen des Tieres verglasen sich.

„Markus Paltram!“ Eine bebende Stimme ruft das Wort. Er hört es. – Er läßt ab von seiner entsetzlichen Gier – in seinen Augen steht der Schrecken – er taumelt auf.

Und er sieht in ein totenbleiches, edles Gesicht – die Gestalt trägt die Blumen der Alpen auf dem Haupt, an der Brust und im Gürtel.

In abergläubischer Furcht weicht er zurück – ist die Gestalt eine Erscheinung der Sage, die das gemarterte Tier schützt! – Erst wie er Pfarrer Taß sieht, ist er der Wirklichkeit zurückgegeben.

„Fräulein Premont!“ Er stammelt es und sein Gesicht verliert jede Farbe.

Sie aber steht vor ihm in zitternder Bewegung, in flammendem Zorn.

„Herr Pfarrer!“ ruft Paltram; er sucht Erlösung aus seiner bittern Verlegenheit und streckt ihm die Hand entgegen.

Der Pfarrer schüttelt sie verständnisvoll. „Ein Kapitalschuß – ich wünsche Euch Glück!“

Als Paltram die Hand aber zögernd auch Cilgia bieten will, flüchtet sie ihre Rechte.

„Euch gebe ich die Hand nicht! Ihr seid nicht besser als der, den Ihr angeklagt habt bei mir!“

Sie sagt es in kaltem Zorn und ein niederschmetternder Blick trifft ihn.

Markus Paltram weiß, daß er in ihren Augen gerichtet ist.

„Fräulein, es ist seit vier Jahren die erste Gemse, die ich schieße,“ stammelt er, „es hat mich gerade heute übernommen!“

Allein sie wendet den stolzen Kopf nicht zurück.

„Was willst du?“ fragt der Pfarrer zürnend, „das Bluttrinken ist Jägersbrauch; bei der ersten Gemse, die er schießt, thut es jeder. Mein Vater hat es mich geheißen – ich that’s mit Widerwillen; aber was ich selbst gethan, dafür kann ich einem andern keine Vorwürfe machen.“

Mühsam schleppt sich Cilgia, sie antwortet nicht, sie sieht den Goldrauch nicht, der die grünen Lärchen am Ausgang des Rosegthales durchzieht.

Erst nachdem sie lange gegangen, kommt ein abgerissenes Wort von ihr.

„Wie will Gott einmal richten und sühnen, was der Mensch an der Kreatur verbricht!“

Trotz aller Erschöpfung wacht sie in die Nacht hinein und preßt die glühende Stirn ans Fenster.

„Dieses Bild wird mich verfolgen, so lange ich lebe. Und was ich bei Menja noch nicht wußte, das weiß ich jetzt, ich – es ist schrecklich – ich liebe ihn!“

Sie schluchzt, die starke, stolze Cilgia Premont – sie weint vor brennender Scham, vor ingrimmigem Zorn gegen sich selbst, daß sie Markus Paltram am Abend nach Grubers Besuch – ihr Herz offenbart hat.

„Nein – sie hat sich geirrt. – Markus Paltram, der die Mutter vor den Augen des Kindes erschießt, wird nicht der Held sein, der das Engadin erlöst!“ (Fortsetzung folgt.)     


Zum dreihundertjährigen Jubiläum von Freudenstadt.

Von Alfred Freihofer.

Das alte Murgthalthor.

Die schwäbischen Städte und Städtchen reichen fast alle, wie dies ihr Aussehen bis zum heutigen Tag verrät, ins hohe Mittelalter hinauf; ihre Geschichte verliert sich meist in graue Vorzeit, so daß keine Kunde übriggeblieben ist, wann und von wem sie gegründet wurden; viele sind ursprünglich römische Ansiedlnngen gewesen. Zwei Städte aber besitzt das heutige Königreich Württemberg, die erst in neuerer Zeit durch ven Herrscherwillen des Landesfürsten sozusagen „künstlich“ aus dem Nichts erschaffen worden sind. Die bekanntere von beiden ist Ludwigsburg, das Württembergische Potsdam, eine Schöpfung des Herzogs Eberhard Ludwig aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts. Mehr als ein Jahrhundert älter ist Freudenstadt, von Herzog Friedrich gegründet, einem der interessantesten Fürsten aus dem an kraftvollen Gestalten so reichen Hause Württemberg. In der politischen Geschichte des Landes spielt er eine minder sympathische Rolle, denn er suchte den Württembergern ihre alten Verfassungsrechte zu entreißen und ein selbstherrliches Regiment aufzurichten; aber er bethätigte diesen seinen Eigenwillen auch durch einen kühnen Unternehmungsgeist: seine Pläne, den kleinen und kleinlichen Verhältnissen des Landes durch Handel, Industrie, Bergbau u. s. w. aufzuhelfen, zeigen große Gesichtspunkte und eine ganz modern anmutende Vorurteilslosigkeit. Dabei war er aber doch ganz ein Kind seiner barocken Zeit, dem Abenteuerlichen zugeneigt und so insbesondere auch der Goldmacherei. Er bevorzugte seine Alchimisten bis zum Galgen, denn er hängte sie, wenn sie ihre Versprechungen nicht lösen konnten, nicht wie die kleinen Diebe, sondern errichtete ihnen prächtige Käfige auf hohen Eisengerüsten und ließ sie, mit goldflitternden Gewändern angethan, darin baumeln. Eben die Goldmacherei führte ihn, da er ein kluger Mann war, aber auch dazu, dem ernsthaften Bergbau seinen Eifer zuzuwenden, und die Wiederbelebung der uralten Eisenwerke des Christophsthals im Schwarzwald gab den direkten Anlaß zur Gründung der „Freudenstadt“.

Die landläufige Geschichte erzählt, Herzog Friedrich habe die Stadt gegründet, um den vertriebenen protestantischen Salzburgern eine Heimstätte zu bereiten. Das ist nur beschränktermaßen richtig, denn der Fürst, der einige Jahre zuvor gegen den schärfsten Widerspruch seines Hofpredigers Osiander die Juden ins Land gelassen hatte, um den Handel zu beleben, hat auch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0652.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2023)