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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 22.   1899.


Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.
(3. Fortsetzung.)


7.

Durch einen wonnigen Augustabend schritt Cilgia mit ihrem Lateinbuch zum Kirchlein Santa Maria empor.

Sie trug einen Brief Konradins von Flugi mit sich. Er schrieb, daß die Freunde nächstens zu einem frohen Nachmittag nach Pontresina kommen werden, sie möge es auch Paltram mitteilen. Es freuen sich alle, den jungen Büchsenmacher kennenzulernen, von dessen neuem, vortrefflichem Gewehr man in den Dörfern rede.

Was thun? Paltram war seit der Begegnung einmal an ihr vorbeigegangen. Da hatte sie den Kopf abgewandt und seinen Gruß nicht erwidert.

O, das Volk hat recht: er ist ein Camogasker – eine abgründige Seele!

Wie es aber den Freunden sagen, daß sie sich in Paltram getäuscht habe, daß er der Jugend des Engadins nicht würdig sei? Sie knirschte vor Verlegenheit mit den Zähnen.

Ob die Freunde sie auch nur verstünden? Das Engadinervolk, jung und alt, hat andere Gedanken über die Jagd als sie, und selbst ein so gebildeter Mann wie der Pfarrer beschönigt die unsägliche Roheit Paltrams.

„Schau um dich,“ hat er gesagt, „und wo du hinblickst in der Natur, ist nicht der sanfte Ausgleich, sondern der Kampf, und jeder, der kann, übt sein Herrenrecht über Mitmenschen und Kreatur.“

Sie aber hat in flammendem Zorn erwidert: „Wohlan, wenn andere das Recht der Grausamkeit für sich in Anspruch nehmen, so wollen doch wir gütiger sein und Barmherzigkeit üben!“ Im Pfarrhaus ist darauf etwas wie eine Verstimmung entstanden, und erst etliche Tage später hatte der Pfarrer gefragt, welche Bewandtnis es denn mit einer Anklage Paltrams gegen einen Dritten habe. Da hat sie ihm wohl oder übel die Geschichte vom Fang der Gemsen mit der Gabel erzählt. Und der sonst milde Jakob Taß hat nicht Ausdrücke, die hart genug sind, die That Grubers zu verurteilen! Der Schuß Paltrams aber sollte ehrenhaft sein. Die Mutter unter den Augen des Kindes töten – ehrenhaft!

So grübelt Cilgia.

Bleiern und leblos ist der Abend! Wie lange erscheint Pia mit den Geißen nicht? Barfüßige Kinder kommen vom Dorf gelaufen und spähen nach ihr. „Es ist doch Melkzeit!“ Auch ein paar Frauen. „Es ist nichts mit Pia,“ zürnen sie. „Ziege um Ziege fällt ihr zu Tod. Sie hat wohl wieder ein schlechtes Gewissen.“

Endlich, schon in sinkender Nacht tritt die bimmelnde Herde aus dem Wald, doch die Hirtin fehlt. Die Frauen und Kinder geleiten ihre Ziegen ins Dorf. Cilgia zögert noch.

Wo bleibt Pia?

Da bringt aus dem Dunkel des Waldes ein bärtiger starker Wildheuer die Hirtin auf seinem Rücken. Das barfüßige, lotterig gekleidete Mädchen hatte den einen braunen


Baßtölpel.
Nach dem Leben gezeichnet von Paul Neumann.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0677.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2023)