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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die Vorschrift eingehalten. Da – wer kann der Macht des Kismet, der Fügung, entgehen – that sie es plötzlich doch und sah vor sich den letzten unter den Beamten, einen jungen Mann, bei dessen Anblick es sie wie ein heftiger Schreck durchfuhr. Es war aber ein seltsam freudiger Schreck. Wie ein Feuerstrom flutete es ihr zum Herzen; sie wankte fast unter der Macht dieses Eindruckes und mußte sich gewaltsam aufrecht erhalten. Wohl senkte sie sogleich den Blick wieder zur Erde, aber eine Macht, die stärker war als ihr Wille, zwang sie, die Augen wieder zu erheben und noch einmal auf den jungen Mann zu schauen. Jetzt trafen sie auch die Blicke des Reiters – ihr Herz erbebte, der Atem stockte ihr in der Brust. Welch tiefer Ernst beseelte diese Augen, und dennoch entströmte ihnen ein flammend Leuchten, das sie bezauberte, berückte, sie fast von Sinnen brachte. Es war Anymeh zu Mute, als ob sie vor Schmerz vergehen müßte, und zugleich hätte sie vor Glückseligkeit laut hinausschreien mögen. War das die Liebe – ist das die Liebe? sann das Mädchen. Sie taumelte, indes sie in der glühenden Sonnenhitze neben ihrem Vater dem Dorfe wieder zuschritt, sie wandelte wie berauscht. Der alte Ghulam ergriff seine Tochter bei der Hand und führte sie. „Das ist die Sonne, sie ist schon stark, du hättest nicht so lange in der Hitze stehen sollen,“ murmelte er.

„Ja, es war die Sonne,“ flüsterte mit seltsam traumhaftem Gesichtsausdruck Anymeh. Dann aber richtete sie sich plötzlich in die Höhe, hielt den Kopf wie gewaltsam aufrecht und schritt ruhig und fest neben ihrem Vater ihrer Behausung zu.

Ghulam Husseins Anwesen unterschied sich durch Größe und Stattlichkeit von den übrigen Häusern des Dorfes, die meistens Hütten aus Lehmziegeln waren. Der reiche Landmann wohnte in der Ruine einer Feste, von welcher noch die Umwallung aus einer Steinmauer und ein Turm aus luftgedörrten Backsteinen übrig waren; an den Turm waren schiefgedeckte Ställe für langhaarige Ziegen angebaut, ebenso ein großes Wintersteinhaus für die Kühe. Der runde Turm mit je einem Fenster nach Nord und Süd auf seinen drei Stockwerken, die allerdings keine Glasscheiben, sondern nur ausziehbare Schilfmatten als Verschluß hatten, diente zur Wohnung und gewährte Vorratskammern.

Jetzt befand sich nun Anymeh unten im Wohnzimmer ihrem Vater gegenüber. Vater und Tochter hatten jedes ein niedriges buntbemaltes Eßtischchen vor sich und saßen mit untergeschlagenen Beinen nach orientalischer Art auf einer Binsenmatte auf dem Boden, indessen eine kurdische Magd mit bronzefarbenem Gesicht, Schlitzaugen und platter Nase die Herrschaft bediente; sie verzehrten ihr einfaches Mahl, bestehend aus Kirschenreis, Thee und Salzoliven. Solange die Magd zugegen war, wurde kein Wort gewechselt. Jetzt war das Mahl beendet und die Kurdin saß draußen vor der Thür, die Schüssel auf dem Schoße, nunmehr selbst ihre Mahlzeit verzehrend; Ghulam Hussein hatte von seiner Tochter die angezündete Wasserpfeife gereicht bekommen und entlockte behaglich dieser duftende Rauchwolken. Da brach Anymeh das Schweigen und begann: „Der neue König hat ein zahlreiches Gefolge.“

„Das hat er,“ antwortete Ghulam, „weil er neben manchen alten Dienern, die er von seinem Vater übernommen, noch junge Beamte ganz nach seinem Willen sich gewählt hat. Der junge König – Gott möge ihm hundert Jahre Leben schenken! – soll klug sein und die Absicht haben, viele Uebelstände abzustellen – Gott möge hierzu ihm seine Hilfe verleihen!“

„Ich sah einen Mann unter den Dienern, der noch nie hier war,“ fuhr Anymeh, die Augen starr vor sich auf die Theeschale geheftet, fort, „einen großgewachsenen Mann mit schwarzem Barte und gerader Nase, er ritt als letzter.“

„Ich kenne den Mann nicht, aber Gamber Ali, unser Nachbar, der ihn kannte, sagte, er sei der Sohn des Küchenmeisters und Oberkochs Thagi, ein Gelehrter, der die Dichter lesen könne und sogar die Sprachen der Jnglis (Engländer) und Franken verstände. Er sei schon, als der König – Gott möge ihm Segen und Gesundheit verleihen! – noch ein Kind war, dessen Spielkamerad und Lehrer gewesen und jetzt unterrichte er den Schah in der Frankensprache.“ Bei der Erwähnung, daß der junge Mann ein Sohn des Oberkochs sei, hatte ein freudig aufleuchtender Strahl aus den Augen Anymehs den erzählenden Vater getroffen, doch der Blick verdüsterte sich wieder, als ihr Vater auch das andere berichtete.

Anymeh sah darauf wieder starr vor sich nieder, der alte Ghulam rauchte.

„Ob die Sprache der Franken wohl schwer zu erlernen ist,“ spann jetzt Anymeh, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, die Unterhaltung wieder fort.

„Gewiß, sehr schwer,“ antwortete Ghulam, „denn es lernt sie fast niemand, und Leute, die in Frankistan gewesen sind, haben sie – das weiß ich – auch nicht gelernt.“

„Aber jener Thagi versteht die Sprache,“ versetzte Anymeh, gedankenvoll aufschauend.

„Ja, er muß ein großer Gelehrter sein.“

„Ich möchte die Sprache auch verstehen,“ meinte darauf Anymeh.

„Eh, wer wird solche Dummheiten sprechen,“ antwortete, eine gewaltige Rauchwolke ausstoßend, der Bauer. „Eine Frau und die Sprache von Frankistan! Willst du Minister werden und mit den Gesandten dich streiten?“ spottete er; „besorge die Kühe und die Schafe, koche deinem Manne seine Lieblingsgerichte und du wirst glücklich sein. Ich glaube gar, du würdest den Sohn des Kochs heiraten um der Sprache der Franken willen,“ lachte Ghulam von neuem.

„Ja – das möchte ich,“ antwortete da Anymeh, mit ihren dunklen Augen voll, groß und ernst den Vater ansehend, so daß dieser unter diesem Blick, den er kannte, stutzig wurde und die Pfeife aus dem Munde nahm.

„Ich würde alle Schätze, die ich besitze, hingeben, wenn dieser Mann mich zu seinem Weibe wählen wollte,“ fuhr Anymeh in der gleichen Weise nachdrücklich fort.

Ghulam legte das biegsame Pfeifenrohr auf den Tisch und schlug die Hände zusammen. „Die Sonne hat dir den Kopf verwirrt, Töchterchen,“ sprach er. „Du hast ja den Mann heute zum erstenmal in deinem Leben gesehen und kein Wort mit ihm gesprochen,“ warf er weiter ein.

„Und doch kenne ich ihn. Er ist ein großer Mann und ein guter Mann,“ versetzte das seltsame schöne Mädchen, immer noch als ob es in Gedanken vor sich hinspräche.

„Und du – eine Bauerntochter und er – ein Genosse und Lehrer des Königs!“

„Haben doch Fürsten Bauerntöchter geheiratet!“

„Ja, in den Versen der Märchenerzähler und vor tausend Jahren, als die Kühe noch singen konnten,“ versetzte Ghulam.

„Wenn er mich lieben könnte, würde er mich auch heute heiraten können. Weshalb denn nicht?“ wandte Anymeh ein.

„Du bist nicht gescheit,“ meinte darauf der Bauer, sich vom Tische erhebend, „du träumst und sprichst wie im Fieber. Der Anblick des Zuges, der Weg und die Hitze haben dich krank gemacht, sonst könntest du, mein vernünftiges, kluges, gescheites Mädchen, solchen Unsinn nicht sprechen. Lasse dir einen kalten Trunk bereiten und lege dich nieder. Einer aus der Umgebung des Königs und die Tochter Ghulam Husseins – wie sollten die zusammen kommen! Begieb dich zur Ruhe oben in dem luftigsten Zimmer, Töchterchen,“ mahnte der Bauer sorgenvoll und verließ den Raum, um nach der Bewässerung seiner Obstgärten zu sehen.

Wenn es für die Tochter des Bauern Ghulam „Kismet“ war, den jungen Thagi zu erblicken, so schien es nicht minder Bestimmung für Mirza Thagi gewesen zu sein, daß ihm Anymeh gerade vor der Sommerresidenz begegnete und die Blicke der beiden sich trafen. Der Sohn des Kochs war kein großer Frauenverehrer, ja man hatte ihn an dem sehr leichtfertigen Hofe des Schah Mahumed als einen Weiberhasser verspottet. Das war jedoch der junge Mann nicht. Er hatte sich ein großes Ziel gesteckt: obwohl nur der Sohn eines Kochs, hatte er alles drangesetzt, in die Kreise der Gelehrten zu kommen, und getrieben von einem wahren Feuereifer für alles, was Wissenschaft hieß, arbeitete er mit rastlosem Fleiß auf allen Gebieten, wo er sich nur Hilfsmittel verschaffen konnte, seine Bildung zu vollenden und sich auch eingehende Kenntnisse von dem Leben und Treiben, den Wünschen und Bedürfnissen der Völker zu verschaffen. Selbst ein Sohn jener südlichen Landschaft, deren Hauptstadt Schiras ist, war er an den Hof des Thronfolgers gekommen, welcher damals in einer Art Verbannung als Statthalter einer entlegenen Provinz am persischen Meerbusen lebte und dessen Gesellschafter und Lehrmeister er wurde. Völlig in Anspruch genommen von diesem Wissensdurst,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0690.jpg&oldid=- (Version vom 22.2.2023)