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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 23.   1899.


Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.
(4. Fortsetzung.)


8.

Die Freunde kamen zu Besuch nach Pontresina. Mit vielen schönen Worten redeten sie von ihrem Bund. Von einer Acla, einer Waldwiese, wanderte man gegen Abend nach dem Dorfe zurück, man aß Brot und Milch, worauf die ganze Gesellschaft die Werkstatt Paltrams besuchte und darin in überschäumender Fröhlichkeit eine große Unordnung anstellte. Denn die Freunde schmiedeten und die Mädchen ließen neugierig das Wasserrad und den Blasebalg spielen. Und Cilgia brauchte sich über Markus nicht zu schämen, neben Luzius von Planta war er, obgleich nur Büchsenschmied, der Jüngling mit den besten Formen des Umgangs, und in der Macht der Erscheinung kam ihm keiner der jüngeren Freunde gleich. Aber auch ihnen war sie dankbar, denn sie begegneten Markus mit großer Artigkeit und Herzlichkeit. Es spürte eben jeder, daß er ein Besonderer und kein Kleiner war. Das Köstlichste aber für Cilgia war, daß niemand von den Freunden merkte, wie nahe ihr Markus stand, obgleich sie dann und wann mit ihm einen verstohlenen Blick herzlichen Einverständnisses gewechselt hatte.

O, was ist es Schönes um so eine heimliche, glückliche Liebe! Niemand wußte darum, nur die thörichte wilde Pia. Ihre Raubtieraugen fragten verwirrt: Wie kann man einen so entsetzlichen Menschen wie Paltram lieben? Sie fürchtete ihn wie das Schwert Domino Clas’, des Scharfrichters, und folgte jedem seiner Worte mit hündischem Gehorsam. –

„Wenn du nicht still hältst und nicht thust, was ich dir sage und dir zeige, wird die Schulter nie wieder so gesund, daß du deinen Bruder besuchen kannst!“

Cilgia mahnte die Widerspenstige wie schon oft.

„Doch – doch, zu meinem guten Bruder Orland in Hamburg muß ich einmal gehen,“ knirschte Pia und duldete, daß ihr die freiwillige Pflegerin mit sanftem Strich und Druck so, wie es Paltram ihr gewiesen, über die wehe Schulter fuhr. Im Kampf gegen die reißenden Schmerzen tastete sie mit der unsicheren Linken nach den Gegenständen, meist Dingen aus der Werkstatt Paltrams, die auf ihrer Decke lagen, hielt sie, hob sie, senkte und schwenkte sie und ahmte mit ingrimmiger Festigkeit die Bewegungen und Handgriffe nach, die ihr Cilgia mit aufmunternden Worten vormachte. So übte man am Morgen eine halbe Stunde und eine halbe Stunde am Nachmittag.

Erschöpft schlummerte Pia ein.

Mit warmer Teilnahme betrachtet Cilgia die jugendliche Schläferin.

Sie ist ein tolles Ding, die Pia. In der niederen, doch vom Ansatz des schwellenden, schwarzen Haares schön gezeichneten Stirne hatten nur wenige Gedanken Raum, aber die wenigen sitzen darin wie die Vögel im Nest und beherrschen sie. Es sind besonders diejenigen, die ihr die alte Wahrsagerin auf der Landsgemeinde eingegeben: sie würde arm und ledig bleiben, ihr Bruder aber reich und geachtet werden! Unmittelbar vor dem Unglück hatte sie einen Brief von ihm erhalten, worin er schrieb, er sei bis Hamburg

Franz Reuleaux.
Nach einer Aufnahme von Reichard & Lindner, Hofphotographen in Berlin.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0709.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)