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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Stumm ergeben sich die Liebenden dem mächtigen Eindruck des Bildes und stehen eng beisammen.

Da geht ein gewaltiges Rollen durch die Burgen der Stille, fast ein Donnerhall.

„Der Gletscher redet,“ sagt Markus.

„Geliebter, kennst du die Sage, die darin fortzittert von der Zeit zur Ewigkeit?“ fragt Cilgia zärtlich und ernst.

„Ich kenne sie – doch höre ich sie gerne von deinem lieben Mund,“ erwidert er.

Sie aber sagt:

„Alle, die sich lieben, sollten an diesen Ort pilgern und sie sich ins Gedächtnis rufen. Höre, Markus!“

Sie haben sich auf einen sonnbeschienenen Block im Angesicht des Gletschers gesetzt.

Und Cilgia erzählt:

„Wo jetzt der Gletscher donnert und seufzt, lag die schönste Alpe des Engadins. Der junge Hirt Aratsch, der darauf seine Herde hütete, liebte ein schönes reiches Mädchen von Pontresina. Ihre hartherzigen Eltern aber duldeten diese Liebe nicht. Da zog Aratsch, nachdem ihm das Mädchen das Versprechen ewiger Treue gegeben hatte, als Söldner in die Dienste Venedigs. Auf einem Schiff kämpfte er gegen die Türken, er wurde in kurzen Jahren Hauptmann, und der Anteil an den Beuten machte ihn reich. Mit großen Ehren gab man ihm, als seine Zeit abgelaufen war, den Abschied. Als er aber mit seinen Reichtümern wieder nach Pontresina kam, war das Mädchen die Braut eines andern. Er ließ alle seine Habe im Stich, ging auf die Alpe und niemand sah ihn wieder. Da starb die Maid. Ihre Seele aber fand keine Ruhe. In Mädchenschönheit schritt sie bergauf, bergab über die Alpe, sie klopfte an die Hütten an: ‚Habt ihr meinen Aratsch nicht gesehen?‘ Gütig segnete sie die Milch der Sennen, und viele Jahre noch wandelte sie in sanfter Anmut und leiser Klage. Eines Tages aber wies ihr ein hartherziger Senne die Thür. Nun glaubte sie an den Tod des Geliebten und sagte: ,Wohl, so will ich zu ihm niedersteigen und die Alpe mag vergehen!‘ Da donnerten in der Nacht die Berge, die stürzenden Gletscher deckten die Weide und bauten aus Säulen von Eis ein Grabmal über die Liebenden. Dort bei der Insel Persa ruhen sie in wunderbarer blauer Kluft auf einem Felsblock; im Rauschen der Bäche, die durch die Eishöhlen röhren, erklingen die Orgeln des Gletschers und Musik füllt die Hallen und das Herz der Maid mit unendlicher Wehmut, denn sie weiß nicht, wie nahe sie dem Geliebten ist. Einmal aber wird ihr Gott in seiner Güte doch Erlösung aus der Sehnsucht geben. Aber nur einen kurzen, kurzen Tag wird die Alpe wieder grün und dürfen die Liebenden wandeln. Denn am andern Tag ist Weltuntergang.“

Sie schwieg in tiefem Ernst und heißer Empfindung.

Eine Lohe innerer Glut stand in den schwarzblauen Augen Paltrams.

„O Cilgia, Cilgia – wie die Maid von Pontresina müßte ich dich suchen und mein Name in den Gletschern untergehen, wenn ich – – –“

„Sprich das schreckliche Wort nicht!“ flehte Cilgia. Sie zog ihn an sich und ihre Lippen fanden sich im ersten Kuß der Liebe.

Das Glück führte sie hinweg vom Gletscher, im Herbstsonnenschein zwischen mächtigen Bergen das schöne Berninathal empor. Sie schritten, ohne daß sie es achteten, im Gleichmaß der Bewegung wie im Rhythmus eines Liedes.

Und ist die junge, hoffnungsreiche Liebe nicht ein Lied?

Sie kamen zum Berninahaus unter den himmelhohen Mauern der Diavolezza – der Teufelshöhe.

Ein verwildert aussehender Mann stand unter der Thür und grüßte.

„Es ist der Vorgesetzte der Weger,“ sagte Markus, „er hat einen schweren Posten. Mit den Seinen kämpft er sich, wenn Unglück in den Bergen lauert, Tag und Nacht durch Schnee und Sturm – er warnt – er rettet.“

„Und wenn du nur so ein wilder Weger wärest, Markus, der sein Leben in die Schanze schlägt, wäre ich schon stolz auf dich!“ versetzte Cilgia.

Da hallte an den Felswänden ein Schuß wider.

„Siehst du dort, Cilgia, auf dem äußersten Vorsprung der Diavolezzafelfen steht ein Jäger. Er schwenkt den Hut – er hat einen glücklichen Schuß gethan.“

Eifrig sprach es Markus.

„Und thut dir das Herz nicht weh, daß du nicht jener bist?“ fragte sie ihn voll Spannung.

Er sah sie frei und offen an. „Einst war es mein liebster Gedanke, daß ich den stolzen Jägertod finde, den Tod einsam im Gebirge. Und Jahre hindurch kommt kein Mensch – endlich vielleicht ein Jäger – er findet ein Gerippe – ein Gewehr, und nachdem er alles untersucht hat, spricht er: ,Das ist Markus Paltram. – Gott habe dich selig, Kamerad!‘ – Jetzt aber möchte ich etwas anderes: recht lange, lange glücklich leben mit dir, Cilgia!“

Sie hatten die Paßhöhe erreicht. Vor ihnen stand in Herrlichkeit, unter einem Himmel wie eine Enzianenglocke, ein drängendes Heer kühner Felsengipfel, das italienische Gebirge.

Es war um die Mittagszeit, und auf der Höhe wechselten die Säumer von Nord und Süd ihre Grüße, und die Pferde, die sich kannten, wieherten sich zu.

Cilgia und Markus aber schritten über den Steinplattenweg, der sich zwischen den seltsamen Hochgebirgsseen hindurchzieht, die unschlüssig und gottverlassen in der furchtbaren Oede des nackten Gesteins liegen und zitternde Ringe um die Blöcke werfen, die aus ihren Fluten ragen.

Der eine See ist hell, der andere dunkel, sie heißen der Weiße und der Schwarze, aus dem hellen fließt ein Bach und seine Wellen ruhen, wenn sie genug gewandert sind, im Schwarzen Meer, aus dem Schwarzen See strömt wieder ein Bach und seine Wasser gehen in die blaue Adria.

Doch sonderbar! – Ein Lüftchen weht über den Paß und sein Säuseln genügt, daß die Fluten des einen Sees unter den Platten des alten Schicksalswegs, auf dem Herren nach Süden zogen und als Bettler heimkehrten, Bettler nach Norden wanderten und als Herren wiederkamen, in die Fluten des andern Sees schlagen, und die ins Schwarze Meer hätten wandern sollen, gehen zur Adria und die Adriawasser fluten wegen eines Windhauchs ins Schwarze Meer.

Und wenn der Tag noch so hell und sonnig über die Oede der Paßhöhe zieht, die Berge wie Lichter stehen, es liegt doch etwas wie geheimnisvolle Schicksalsstimmung über den Seen, denn so leicht wie hier oben Meer und Meer sich scheiden, scheiden sich Glück und Unglück.

Daran denkt das junge Paar nicht, das den Gesteinsweg schreitet. Sie gehen den einsamen steinichten Weg am Südhang der Bernina und sind auf Sassal Masone, der menschenfernen Bergaltane, neben der vom weißen Gebirge herab furchtbar jäh der Palügletscher mit herrlich schillernden Brüchen herunterhängt und ununterbrochen in Eisstürzen grollt, die prasselnd in die Tiefe gehen.

„O Markus, sieh meine Heimat, mein Puschlav, da liegt es tief wie eine Ewigkeit unter uns, in seinem Kessel lacht es wie ein in die Hölle versunkenes Paradies, mein Dorf am blauen See – und o Schönheit! – durch die dunkle Kluft hinter dem Dorf glänzt die Madonna di Tirano, wie ein Funke glänzt das Muttergottesbild, der Gruß des Veltlins. Und siehst du dort das große Dach links hin? Das ist mein Haus – und einmal dein Haus, Markus!“

Wie zwei Kinder staunen sie hinab in den grünen schönen Schlund.

„Fürchte also nicht, Liebster, daß ich ganz arm sei,“ fährt Cilgia fort; „wohl hat mein Vater, wie jedermann weiß, durch den Veltliner Raub das meiste verloren, aber Markus, es ist genug da, damit, wenn ich es eines Tages in deine Hände lege, du ein freier Mann bist, der sich zu kehren weiß.“

„Cilgia, habe ich je danach gefragt?“ antwortet er mit leichtem Vorwurf. „Ich schlage mich mit dir gewiß durch die Welt!“

„Es ist doch wertvoll,“ sagt sie.

Sie streiten, und zuletzt küssen sie sich.

Und nun hangen beider Augen wieder am schimmernden Dach von Puschlav. Es winkt wie das gelobte Land – eine Oase des Friedens – eine Oase des Glücks.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0715.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2023)