Seite:Die Gartenlaube (1899) 0718.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

zum gestirnten Himmel, der seine leuchtenden Bilder über den schemenhaften Gipfel der Bernina zog.

„Was für ein glückliches Jahr jetzt kommt – Gott im Himmel erhalte mir meinen Markus gesund!“

Cilgia sprach es in träumender Seligkeit.

„Er hat ein wahnsinniges Glück – aber von der Landsgemeinde in Samaden an hat man es kommen sehen.“

So sprach man im Oberengadin, und der Neid stachelte noch einmal die Camogaskersage gegen Markus Paltram auf und Cilgia erhielt manche geheimnisvolle schriftliche Warnung vor ihrem Bräutigam, die sie lächelnd ins Feuer warf. –

Die ersten Wochen des Jahres führten eine so grimmige Kälte heran, daß selbst die Hitzigsten nicht an Schlittenfahrten dachten. In der klaren Luft hörte man Markus Paltrams Hammer bis nach Samaden und St. Moritz hinüberklingen, auf eine halbe Stunde Entfernung verstand man jedes gesprochene Wort, von den Saumzügen, die vom Berninapaß kamen, schwebte eine dampfende Wolke auf, Männer und Pferde erschienen, vom Reif überzogen, wie auferstandene Schatten der Vorzeit, und der Schnee knarrte und sang unter den Schlitten.

Tag um Tag besuchte jetzt Cilgia ihren Verlobten in der Werkstatt, sie sah ihn gern hantieren und liebte seine fleißige Arbeit, besonders aber eine kleine Winteridylle. Er hatte allerlei Sämereien kommen lassen, er fütterte vor seiner Hütte die Vögel des Gebirgs, die die erbarmungslose Kälte in die Nähe des Dorfes getrieben, und Pia, die große Lust zeigte, ihm die Freude an dem muntern Leben der bunten Bergfinken, Ammern, Bachstelzen, Blutspechte und Bergdohlen zu verderben, hütete sich davor.

Eines Tages aber bereitete er Cilgia eine besondere Freude.

„Siehst du, Gemsen! – ich habe ihnen Heu hingelegt.“

Ganz nahe naschten die hungrigen Tiere und hoben die Köpfe und spähten mit ihren muntern Lichtern nach ihnen.

„O Markus, du mußt es im Innersten spüren, daß dich das glücklicher macht als die Jagd!“

„Ich spüre es auch,“ erwiderte er in warmem Herzenston, und das Paar tauschte Hand in Hand die leuchtenden Blicke innersten Einverständnisses.

Selbst die mißtrauische Pia, an der alle Genesungshoffnungen sich erfüllt hatten, faßte etwas Zutrauen zu ihrem Hausgenossen. Mit kleinen Geschenken ließ sie sich, als das Wasserrad eingefroren war, gewinnen, daß sie ihm dann und wann den Blasebalg der Esse zog. Und Cilgia lobte den Waldteufel dafür.

Eines Tages aber, als sie eben wieder die fast zutraulich gewordenen Gemsen fütterten – es war schon gegen die Fastnacht – gingen in Pontresina die Sturmglocken.

Die Schneeböen sind im Gebirge los. Ein Bote vom Wegerhaus unter der Berninahöhe meldet, daß oben ein Zug Maduleiner mit Roß und Waren, an eine Felswand hingeduckt, begraben ist.

Da läßt Markus Braut und Esse: den Spaten auf der Schulter, zieht er mit den andern Männern zur Rettung der Verunglückten in die Wetterschlacht.

Tag und Nacht bleiben sie fort – am andern Abend kommen sie, die geborgenen Männer und Rosse in der Mitte. Aus zitternder Angst jauchzt das Dorf auf – die heimkehrenden Maduleiner aber umringen Markus Paltram, ihren jungen Mitbürger, der mit grenzenloser Mühe drei Erstarrten den geschwundenen Atem aus der Brust gezogen und mit wohlberechneten Bewegungen das Leben wieder gegeben hat. Vergessen und verziehen sind seine tollen Jugendstreiche, er muß ihnen versprechen, daß er zur Fastnacht mit seiner schönen Braut nach Madulein zu Besuch komme.

Und die Bündner Fastnacht ist da, jener Tag wild aufjauchzender Volkslust, der mit manchem unvorbereiteten schweren Ereignis in die Geschichte des Landes eingetragen ist, aber auch die Dörferfreundschaft wie kein anderer weckt. Wer wirft sich da nicht ins bunte Fabelkleid, wer tanzt da nicht wenigstens eine Nacht durch und erlabt sich an Maskenscherz! So herzlahm ist kein Bündnerbursch, kein Bündnermädchen.

Cilgia bringt es nicht über sich, das Gesicht mit einer Larve zu verhüllen, aber von Puschlav herüber aus dem Vaterhaus holen die Säumer zwei Kisten schweren bunten Sammets, der aus Triest stammt, und auf einem zweispännigen Schlitten, dem Tuons im Kleid eines venetianischen Stadtknechts vorreitet, fahren Cilgia und Markus als Doge und Dogaressa von Venedig in weißen Pelzmänteln durchs Land. Auf jugendschönen Häuptern funkeln die vergoldeten Kronen – die Kronen des Glücks!

Es ist ein heller Tag und überall jagen Kostümierte mit klingenden Schlitten zu zweien und in Gesellschaften durchs Thal – und mit jauchzenden Zurufen grüßt man sich.

Gewiß ist unter allen kein schöneres Paar als der Doge und die Dogaressa von Venedig.

Vor ihm schimmern aus der weißen Landschaft die Häuser von Madulein, und über dem Dorf an der Bergwand klebt grau wie ein böser Traum die Feste Guardaval.

Im Dorf ist ungeteilte Freude über den stolzen Besuch, überall strecken sich Hände zum Gruß, in jedes Haus müssen der Doge und die Dogaressa treten und werden bewundert und bewirtet. Besonders in der Hütte des schlichten Bruders Rosius ist lauter Freude, denn Cilgia hat die Kinder, die selbst in farbigen Flicken stecken, nicht vergessen, sie beschenkt sie, und zaghaft, doch mit glänzenden Augen schmiegen sich die Kleinen an die Prachtgestalt.

„Markus, wie kommst du zu so viel Glück? Du bist geachtet im Land und die herrlichste Jungfrau wird dein Weib,“ spricht Rosius in staunender Lust.

„Alles durch sie,“ erwidert Markus bewegt.

Im Vaterhaus des verlornen Sohnes der Bibel kann bei seiner Wiederkehr keine herzlichere Freude gewesen sein als im Dörfchen Madulein, wie Markus Paltram, der Junge, der einst dem Teufel vom Karren gefallen schien, als geachteter Mann und mit einer herrlichen Braut wiederkehrt.

Denn ein verkommener Mann ist des Dorfes Schmach, ein Ehrenmann aber seine Ehre.

Und in Lustbarkeiten vergeht der Tag.

Man berät, wie man dem werten Besuch Vergnügen bereite, und die Jungmannschaft beschließt, daß sie den Dogen und die Dogaressa am Abend im Schlittenzug mit Fackeln und Laternen nach Samaden begleiten und dort bis in den Morgen tanzen wollen. – – –

Eine tolle nächtliche Lichterfahrt Kostümierter im blassen Schneefeld – ein beängstigendes Bild, ein Zug der Hölle fast, würde man sagen, erklänge von den Schlitten nicht Lachen, Musik und Gesang. Allen voran fliegt der Doge und die Dogaressa.

Mit einem traumsüßen Lächeln, schon etwas ermüdet, ruht sie in seinem Arm.

Er aber ist stolz wie ein Fürst, der sich die verlorne Heimat wieder erobert hat. Und er lacht und redet in seligem Taumel Kluges und Thörichtes.

Wer würde glauben, daß Markus Paltram, der Hinterhältige, so kindlich glücklich sein kann!

„O, wenn’s nur meine tote Mutter wüßte,“ stammelt er immer wieder. „Cilgia – Cilgia – wie bin ich glücklich!“

In Samaden tanzt das Engadin. Wer hört den Stundenschlag der Nacht? Wer denkt an Heimkehr?

Der Doge und die Dogaressa tanzen im Wirbel und die Masken haben sich längst gelüftet. Schwül ist die Luft im Saal. Die Geigen aber locken unaufhörlich wie die Musik des Teufels.

„Markus, ich bin müde. Genug ist genug. Ich kann nicht mehr. Lasse einspannen!“ flüstert die Dogaressa, sie bittet, sie fleht.

Aber der Doge hat noch nicht genug, er drängt, daß sie mit ihm tanze, sie versagt sich ihm mit einem leichten Groll, er wendet sich mißmutig von ihr ab – er tanzt mit anderen – seine Augen glühen wie Feuer, und Markus, der sonst keinen Wein trinkt, trinkt Wein!

Die Dogaressa ist nicht nur müde, vor allem ist ihr der Doge zu leidenschaftlich und wild, er ist schreckhaft wild, in seinem Kleide fühlt er sich als oberster Herr, er reißt den andern Burschen die Mädchen aus dem Arm – ein paar übermütige Runden, er läßt sie stehen und fliegt andern zu.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0718.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)