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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Leute, die von der Natur noch etwas anderes wollen als sie anjodeln, schlechte Witze über sie machen und ihr zum Ruhme Ansichtskarten schreiben. Es sind vielfach Leute, die manches in sich und um sich loswerden wollen und die in dieser tiefen Stille über was denken und sprechen mögen, was „von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht“ wird und was im Lärm, im Treiben und Jagen des Alltagslebens selten zu Worte kommt.

Eine dieser alljährlichen Stammgästinnen der Pension, von den übrigen kurzweg „die Excellenz“ genannt, eine schöne, alte Dame mit weißen Haaren, strahlenden blauen Augen und dem fein ironischen Rokokogesicht, das dazu paßte, saß auf der breiten Plattform, die hinter dem Hause liegt und durch deren Glaswände man den prächtigsten Blick ins Thal hinunter hat, wie es so herrlich im Schutz und Schirm der Berge daliegt, in deren bunte Laubwände der Herbst mit seinem Pinsel noch unermüdlich neue Farbeneffekte hineinzaubert.

Die Excellenz hatte eine Schreibmappe vor sich liegen und schrieb eifrig, während ihr belebtes Gesicht das, was sie schrieb, durch sprechendes Mienenspiel gleichsam illustrierte.

Sie schrieb: „Du mußt mir schon noch acht Tage Nachurlaub bewilligen, mein lieber Alter – der kleine Roman, den wir hier alle miterleben, interessiert mich zu sehr, und das Schlußkapitel kann meiner Ansicht nach nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Ich schrieb Dir ja von den beiden Hauptpersonen, in die ich mich tout bonnement verliebt habe. Mir sind selten im Leben zwei Menschen begegnet, die auch äußerlich so ganz und gar zu einander stimmen. Denke Dir sie – das Mädchen – groß, schlank – fast zu schlank – von der Sorte, bei der Gemüt, Geist und Nerven zu viel mitsprechen, um den Körper ganz zu seinem Rechte kommen zu lassen – mit einem ernsthaften, stolzen, leidenschaftlichen Gesicht, mit den vornehmsten Händen und Füßen, mit krausen Haaren, in einer Farbe, wie bräunliches Herbstlaub mit einem Goldton darin; denke Dir in diesem Gesicht Augen, die durch jede Schattierung des Empfindens anders gefärbt werden, wie das Meer durch den Himmel. Und das Interessanteste an diesem interessanten Wesen ist, daß sie scheinbar erst hier so interessant geworden ist. Als sie ankam, machte sie den Eindruck eines scheuen, verschlossenen, fast finsteren Mädchens, das an der Grenze der Jugend und jenseit der Grenze der Illusionen steht. Sie erinnerte mich damals an eine Landschaft, über der ein düsterer Regenhimmel hängt. Aber ich sagte mir in den ersten zehn Minuten – Du weißt, Physiognomien studieren ist meine Leidenschaft – also ich sagte mir damals sofort: wenn da noch einmal die Sonne durch die Wolken bricht, wird das alles strahlen und funkeln, und in den Fenstern der unscheinbaren Häuser wird eine große, prachtvolle Glut entflammen. Und jetzt ist es so weit – jetzt steht sie in der Sonne!

Diese Sonne ist natürlich ein Mann – bitte, höhne ruhig über meine absolut lahmen Gleichnisse, mit denen ich doch weiter komme, wo es gilt, einen anschaulichen Begriff zu geben, als Du auf den beiden gesunden Füßen Deiner logischen Beschreibungen. Ja, bei dem Signalement dieses Mannes werde ich Dich gleich durch eine Unmenge von Fremdwörtern zur Verzweiflung bringen – für ihn giebt es trotz seines urdeutschen Aussehens nur Fremdwörter. Er ist fascinierend, er hat eine indolente Grazie, er hat Charme. Und damit sollst Du für die nächste Viertelstunde genug gestraft sein, denn die Bezeichnung ,Egoist‘, die den pikanten Schatten auf diesem sonnenhellen Bilde abgeben muß und die ich ihm nicht ersparen kann, ist heutzutage kein Fremdwort mehr – leider! Aber ich setze gleich einen kleinen Lichtreflex neben den Schatten – er ist ein Egoist, doch ein liebenswürdiger, ein unbefangener, einer, den alle Welt so lange verwöhnt hat, bis er es selbstverständlich findet. – Da Du nun, Deiner pedantischen Natur entsprechend, Näheres über diesen Vogel Phönix wirst wissen wollen, so kann ich Dir sagen, daß er sich für einen Maler ausgiebt und daß ich ihm kein Wort davon glaube. Ich halte ihn für einen angehenden Diplomaten oder dergleichen, denn er hat keine Spur von dem fatalen ‚Sichgehenlassen‘, das mich an diesen Künstlern schon so oft unheilbar gestört hat. Er kam vor vierzehn Tagen hier an; sie – aber ich will Dir die beiden mit Namen vorstellen: er heißt Kurt von Groden – sie Agnete Nordeck – Agnete, und wenn ich Dir sage, das; sie gar nicht anders heißen könnte, so machst Du Dir eine deutliche Vorstellung von ihr. Wer heißt heutzutage Agnete?

Die beiden jungen Menschen gingen einander zuerst so geflissentlich aus dem Wege, daß ich ganz ärgerlich wurde, sie streifte einsam, stumm und finster mit ihrem Skizzenbuche herum, achtlos auf alles und auf alle – er sah nicht einmal nach ihr hin bei Tisch, obwohl ihm sonst ein sehenswerter Anblick nicht zu entgehen pflegt. Ich sagte ihm einmal in meiner Ungeduld darüber: ,Wie können Sie nur einem so schönen Gesichte gegenüber sitzen und es nicht ansehen – das bringe ich als alte Frau nicht einmal zustande!‘ ,Ja, meine gnädigste Excellenz, Sie sind eben viel jünger als ich und als meine ganze Generation‘, erwiderte er mit seinem angenehmsten Lachen. Und ich lachte mit. ,Nun, da steht ja zu hoffen, daß wir mit der Zeit noch einmal Altersgenossen werden‘, sagte ich, und dabei blieb es. Denn denkst Du, daß selbst dieser direkte Appell an sein Schönheitsgefühl etwas genützt hätte? Nein, gar nichts! Erst eines Abends, als es früh dunkel und kühl wurde, wie es jetzt schon immer wird – als Agnete am Fenster saß und in dem aufsteigenden, klaren Vollmondlicht sich ihr Profil rein und scharf von dem dunklen Hintergrunde des Nachthimmels abhob – erst da erlebte ich es, daß er eine ganze Weile wie selbstvergessen dasaß und sein Auge nicht von ihrem Gesicht los bekam. – Ich wollte erst diskret sein, aber eine Silbe konnte ich nicht unterdrücken, ich sagte mit einem leisen Triumphgefühl zu ihm: ,Nun?‘ Da atmete er ganz tief auf und sagte auch nur eine Silbe – nämlich: ,Ja!‘ Aber wir hatten uns beide ganz gut verstanden und konnten uns füglich längere Sätze schenken.

Seit diesem Abend sind die beiden unzertrennlich geworden, sie sehen und hören eigentlich niemand anders als sich gegenseitig, aber es bleibt anscheinend dabei. – Ich möchte für mein Leben gern wissen, was es mit diesem Mädchen für eine Bewandtnis hat, was für eine Geschichte sie hat! Denn daß sie eine hat, ist mir so sicher, wie daß zweimal zwei vier ist – nein, viel sicherer, denn das werdet Ihr einem ja eines schönen Tages auch noch mal abdisputieren wollen.

Was ich über Agnete erfuhr – aus sicherster Quelle –, ist ganz alltäglich. Sie ist die verwaiste Tochter eines hohen Beamten in sehr guter Vermögenslage, wofür auch ihre ganze Erscheinung und Ausrüstung im Kleinkram spricht; sie lebt mit einer alten unverheirateten Stiefschwester zusammen. Es ist alles klipp und klar und einfach, und dabei hat sie – auch jetzt, wo sie sich so glücklich fühlt, wie man es nur ein einziges Mal im Leben fertig zu bringen pflegt – auch jetzt hat sie das Gesicht eines Menschen, der ein schweres Schicksal mit sich herum schleppt. Ein Zug, der besonders anfangs fast immer um ihren Mund lag, ist nicht der Zug von jemand, der etwas hinter sich hat, sondern der es noch bei jedem Schritt auf den Schultern fühlt. Du kennst mich nun, wo unsere Silberhochzeitskränze schon einen bedenklich goldenen Schimmer bekommen, gut genug, um zu wissen, daß ich nicht abreisen kann, ehe ich erlebt habe, was aus diesem Paar – meinem Paar, wie ich sie nenne – wird! Ich käme vielleicht, wenn Du es mir befehlen würdest, aber sicher nur, um mit dem nächsten Zuge wieder hierher zu reisen. Denn ich möchte zu gern wissen, was er sagen wird, was sie sagen wird, und wie sie beide aussehen werden, nachdem sie es gesagt haben. Und ich möchte auch wissen, weshalb es so lange dauert, bis er es ihr sagt. Sie sind freilich fast gleich alt, aber das kommt doch öfter vor. Du siehst, ich bin noch unbedingt nötig hier, und darum mußt Du noch acht Tage länger allein haushalten. Warum mag er es ihr bloß noch nicht sagen?“


Indessen die alte Dame diesen Brief schrieb, saß Agnete allein im Walde an ihrem Lieblingsplatz und ließ die Gedanken mit den weißen Herbstfäden in die sonnendurchwärmte Luft flattern – und zerflattern. Sie sprach leise vor sich hin, wie sie das öfters that, wenn sie allein war, aber sie war hier nicht ganz allein – sie war bei „ihrem Baum“!

In den allerersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Pension hatte sie einen Gang in den Wald unternommen und war am Eingang einer kleinen Wiese stehen geblieben. Unter dem stämmigen Buschwerk, das diese Wiese einfaßte, wuchs ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0730.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2023)