Seite:Die Gartenlaube (1899) 0734.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

den Verheißungen für Silber- und Goldhochzeit leiden – ich habe so oft die Empfindung, daß solche Feste das erste Glied jener Sklavenkette bilden, an der sich schon ungezählte Tausende Wund und müde getragen haben und noch tragen werden!“

„Solche Menschen sind aber nicht wie Sklaven,“ erwiderte die Excellenz, „die sich beugen, sich bücken und krümmen müssen unter Lasten, die dann aber nach des Tages Hitze doch wieder sich selbst gehören und das bißchen armselige, zerquälte Ich, das ihnen bleibt, wieder retten können – oder doch den Versuch dazu machen, so lange ihre Kraft reicht! Sie sind Galeerensklaven – zwei, die an eine Kette geschmiedet sind, deren einzelne Glieder noch dazu mit schönen, hochtönenden Namen, wie Treue, Liebe, Pflicht oder dergleichen, benannt werden – die sich des Hohnes dieser Bezeichnungen bewußt sind und an der Kette zerren, Tag und Nacht – die mit jedem Versuch, ihre Gefangenschaft zu erleichtern, nicht nur sich, sondern den andern unheilbar mit verwunden – und sie sind die Unglücklichsten, von ihnen gilt Dantes Wort, daß sie alle Hoffnung fallen lassen sollen!“

Agnete hatte während dieses Gespräches kein Wort gesagt, sie war nur bei der Bezeichnung „Galeerensklaven“ zusammengezuckt und hatte die Sprecherin einen Augenblick mit dem starren, entsetzten Blick des Schlafwandlers angesehen, den man bei Namen ruft und der sich plötzlich bewußt wird, daß er über einem Abgrunde schwebt. Dann wandte sie den Kopf und schien der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.

„Ja, solange wir eben die Ehe nicht abschaffen, wird es auch noch solche Galeerensklaven geben!“ bemerkte ein anderer aus der Gesellschaft. „Das ist wieder einer jener zahllosen Fälle, wo man von zwei Uebeln das kleinere wählen muß.“

„Es giebt ja doch auch nicht nur in der Ehe Galeerensklaven,“ erwiderte die Excellenz gedankenvoll. „Sehen Sie in die scheinbar glattesten und glücklichsten Verhältnisse einmal tiefer hinein, nehmen Sie Eltern und Kinder, Geschwister – was Sie wollen – als Beispiel: jeder Verwandtschaftsgrad kann zum Galeerensklaventum werden, wenn er ein Loslösen unmöglich macht und wenn gerade solche Menschen vom Geschick zusammengeschmiedet sind, die sich an diesem Zusammenleben wund reiben.“

„Solche Möglichkeiten darf man eben sich und anderen nicht zugestehen,“ nahm die Konsistorialrätin in sehr überlegenem Tone das Wort, „die Familie ist dazu da, daß ihre einzelnen Mitglieder sich ineinander fügen lernen und jeder des anderen Schwächen erträgt. Wohin kämen wir, wenn wir das nicht mehr gelten lassen wollten?“

Ein derartiger Gemeinplatz pflegt allgemeine Gespräche erfolgreich zu beenden, weil sich zu wenig, oder – zu viel darauf entgegnen ließe, und so geschah es auch hier. Jeder spann seine Gedanken für sich fort, und eine allgemeine Stille folgte den letzten Worten.

Agnete war während dieser Zeit von niemand beobachtet worden als von Kurt Groden. Nur er hatte gesehen, daß der Postbote ihr im Vorübergehen einen Brief hineinreichte, daß sie beim Erblicken der Handschrift sichtlich erblaßte und zusammenfuhr – nur er hatte gesehen, daß sie beim Lesen dieses Briefes noch immer blässer wurde und ihn schließlich mit einer Gebärde unaussprechlicher Müdigkeit in den Schoß sinken ließ. Dann saß sie regungslos und sah vor sich hin, mit einem so besiegten fertigen Ausdruck wie jemand, der wieder einmal erkannt hat, wie schwach der Mensch und wie stark das Leben ist.

Groden biß die Zähne zusammen bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die ihre Erregung zuließ. – Daß ein Geheimnis in ihrem Leben war, hatte er ja auch schon manchmal geahnt, aber worin dieses Geheimnis bestand, dafür fehlte ihm jeder, auch der kleinste Anhalt. Dieser Brief gab vielleicht – nein, wahrscheinlich darüber Aufschluß.

Groden beteiligte sich mit keinem Worte mehr an der Unterhaltung der übrigen Gesellschaft, die allgemach wieder in Fluß gekommen war, er saß im Schaukelstuhl, anscheinend mit den Rauchwölkchen seiner Cigarette beschäftigt, in Wirklichkeit verwandte er über diese hinweg keinen Blick von Agnetens blassem Gesicht.

Die strickenden, plaudernden Damen fanden während ihrer Gespräche genügend Zeit, allerlei Kommentare zu diesem leidenschaftlichen, unverwandten Hinstarren in die Fäden und Maschen ihrer Arbeiten zu verweben und sich durch kleine, vieldeutige Augenwinke darauf aufmerksam zu machen – die Sache machte ja anscheinend rasende Fortschritte – man würde wohl heute oder morgen etwas erleben!

Und in Grodens Gedanken reifte in den Nachmittagsstunden dieses glühheißen Gewittertages wirklich der Entschluß, zu sprechen – womöglich heute noch.

Er wußte durch geschickt gethane Fragen und Erkundigungen genug von Agnetens äußeren Verhältnissen, um seine Absicht nicht übereilt zu finden. Als echt moderner Mensch hatte er diesen Haupt- und Kardinalpunkt sehr energisch in die Wagschale seiner Fragen und Bedenken geworfen.

Daß ihn nebenbei – oder nicht nebenbei! – dies schöne, herbe, hochmütige Mädchen, dies nicht mehr junge, nicht blendende, nicht gewandte Mädchen mehr und gewaltsamer anzog als die ungezählten anderen, die ihn für kurze Zeit zu fesseln vermocht hatten, das war ihm klar. Er hatte die instinktive Empfindung, daß sein Einfluß auf sie so groß war, wie es selbst ihn überraschte, der in dieser Beziehung schon genügende Erfahrung besaß.

Wie anders war sie nicht schon unter diesem Einfluß, unter dem Zauber seiner ganzen Persönlichkeit, geworden! Wirklicher Schmerz und wirkliches Glück gleichen ja darin der südlichen Sonne, daß sie mit Sturmesschnelle einen ganzen Blütenwald von Eigenschaften, von Gefühlen und Gedanken reifen, die in der blassen Alltagstemperatur vielleicht alle verkümmert wären!

Aber stärker als diese Erwägung, die ihm nicht einmal ganz klar wurde, war im gegenwärtigen Augenblick ein anderes Gefühl, eine brennende Eifersucht auf den unbekannten Schreiber jenes Briefes, der das Mädchengesicht dort drüben so tief und so schmerzlich erblassen ließ – der plötzlich wieder den bittern, hoffnungslosen Zug um ihren Mund zeichnete, den die letzten sonnigen Tage so ganz verwischt und verlöscht hatten.

„So soll sie nicht mehr aussehen – nie mehr, wenn ich es ändern und hindern kann!“ gelobte er sich, in dem heißen Aufwallen der Empfindung, ein Glücksspender sein zu können, als welcher sich grenzenlos verwöhnte Menschen so gern einmal erscheinen – der Abwechslung halber.

Und in diesem Gefühl sprang er plötzlich auf und trat zu ihr. „Wollen wir heute die Skizze von gestern fertig machen?“ fragte er mit dem bedeutsamen Ton, durch den er auch die alltäglichsten Dinge so beredt zu machen verstand.

Sie erhob sich schweigend und verbarg den Brief in ihrer Tasche. Er hatte im ersten Augenblick das Gefühl, als könnte er ihr das Blatt mit Gewalt entreißen – als müßte er vor all diesen Menschen sagen: Was steht in dem Brief? Wie darf dich etwas so erregen, das nicht im unmittelbaren Zusammenhange mit mir steht?

Aber er beherrschte sich und vermochte im nächsten Augenblick fast über seine eigene Erregung zu lächeln – sie würde ihm schon sagen, was er wissen wollte, davor war ihm nicht bange!

„Wollen wir skizzieren?“ frug er noch einmal, da sie nicht geantwortet hatte.

Sie nickte stumm und nahm den großen Hut vom Nagel.

Als die beiden, nach flüchtigem Abschied von der übrigen Gesellschaft, den glühheißen Weg nach dem Walde dahingingen – nicht, wie sonst immer, plaudernd und lachend, sondern jedes still für sich in Gedanken versunken, die vielleicht recht verschiedene Wege führten, da sahen ihnen die Damen von der Plattform aus eine ganze Weile mit befriedigten Blicken nach.

Endlich sagte die Konsistorialrätin mit vielsagendem Lächeln: „Heute wird wohl die bewußte Angelegenheit zum Klappen kommen!“

Die Excellenz schüttelte leicht den Kopf. „Sie hätte nicht mit gehen sollen!“ meinte sie nachdenklich und zweifelhaft.


Die schwüle, drückende Luft, die wie ein Mantel herniederhing, schien sich auch auf die Stimmung der beiden Menschenkinder zu legen, die da so langsam und schweigsam miteinander in den Wald schritten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0734.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)