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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

mir in jedem Wort, das sie spricht, in jeder Handbewegung, in jeder Miene antipathisch – ich verstehe im Zusammenleben mit ihr oft die instinktive Wut verschiedener Tierrassen aufeinander; es ist eine in allen Nerven begründete Abneigung, die ich eben nur so bezeichnen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch! Sie thut mir nichts, sie ist nicht einmal böse! Können Sie es begreifen, daß ich mich manchmal danach sehne, sie möchte etwas Schlechtes thun, nur damit ich vor mir selbst einen faßbaren Grund für meinen Widerwillen habe? Wir lachen und weinen ja beide, aber über so ganz verschiedene Dinge. Wenn die eine lacht, so sieht die andere sie verblüfft und verständnislos an und begreift nicht, was sie erheitert – und wenn die eine weint, so steht die andere dabei und versteht nicht, was sie grämt. Und das sagt Alles – wir sprechen verschiedene Sprachen – wir fallen uns auf die Nerven, und die Nerven sind in unserer Zeit und für uns moderne Menschen zwei Drittel vom Leben!“

Das Deutsche Repräsentationshaus für die Pariser Weltausstellung 1900.
Nach dem Entwurf des Bauinspektors Johannes Radke.

Sie schwieg und sah ihn mit einer wilden Frage in den Augen an. Er schüttelte den Kopf. „Traurig!“ sagte er – aber er sagte es als Lückenbüßer für das Verständnis, das ihn dieser Beichte gegenüber im Stich ließ.

Sie nickte mit einem verzweifelten Lächeln vor sich hin. „Sie begreifen es nicht, ich konnte es mir denken! Von hundert Leuten würden es neunundneunzig nicht begreifen – für die meisten Menschen giebt es kein unbegründetes Gefühl. Aber die Dinge, die von den Leuten verstanden werden, mit denen wir in die Schablone des Mitgefühls und der Teilnahme hineinpassen – die sind nicht die schlimmsten. Sie können es sich nicht denken – aber es giebt Tage, wo ich von früh an die Empfindung habe, daß ich aufschreien könnte, wenn sie ins Zimmer kommt und die gleichgültigste Bemerkung macht. In solchen Zeiten habe ich oft gegen eine ganz wilde Vorstellung zu kämpfen, daß alles Lüge ist – alles: Verwandtschaft – Tradition – Pietät – Geduld – alles – und daß nur Eins wahr ist auf der ganzen Welt – das ist der Widerwille!

Ich werde so schlecht, so bitter, so selbstsüchtig – immer in dem Gefühl: ich muß mich selber retten, wie ich nun einmal bin – und für mich giebt es doch keine Rettung! Ich bin eben ein Galeerensklave! Wenn mein Stiefvater das gewußt hätte – er hat es ja so gut mit ihr und mit mir gemeint, er hat uns beide vor Vereinsamung schützen wollen! – aber wenn er das gewußt hätte! Wenn überhaupt die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0757.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)