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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Der König der Bernina! Nun, auch wir werden sehen!“ Das Volk grollt in Drohungen.

Aber wohl ist keinem dabei, und das Schießen von Madulein ist ein Trauerfest. Das Lachen, das da und dort ertönt, erschreckt.

Vom Schießen zu Madulein an ist Markus Paltram der Herr, der König der Bernina, und nur ein Tollkühner wagt sich in sein Gebiet.

Er schaltet und waltet darin wie der Ritter von Guardaval – und er scherzt nicht; er sucht nach jedem Gewehr in den Hütten der Bergamasken und nimmt es an sich. Er geht mit denen furchtbar ins Gericht, die Freundschaft mit den Tieren halten und ihm die äsenden Gemsen, die kurzweiligen Spielgenossen ihrer Einsamkeit, nicht verraten wollen. Er zwingt sie, daß sie ihm dienen und das Wild zu Thal tragen, und wehe dem, der nicht gehorcht oder schwatzt – wie ein böser Geist erscheint Markus Paltram nachts in seiner Hütte.

Und dunkle Sagen gehen, daß ihn auch die Sennerinnen und Wildheuerinnen zu fürchten haben – nicht seine Gewalt, aber sein Lächeln, seine weiche Rede, das hinreißend Traurige in seinem Gesicht.

Er ist wahrhaft der Ritter von Guardaval – wer mag ihm widerstehen, der Glut seiner Leidenschaft?

Und immer neu erheben sich die Gerüchte von unbekannten Jägern aus Italien und Tirol, die als Wilderer unter seinem Gewehr gefallen seien – gefallen, wo es weder Zeugen noch Richter giebt.

Seine Hütte, sagt der Volksmund, sei voll von Trophäen, die er erschossenen Jägern abgenommen habe, und mit Grauen gehen die Leute an seiner Wohnung vorbei, wo doch das lieblichste Kind, die kleine Landola, aus hellen Fenstern schaut.

„Vater, komm heim!“ ruft es freudvoll in die weißen Berge.

Und bei diesem Kinde lächelt Markus Paltram, der Menschenfeind, der wie eine Zuchtrute über dem Bergland ist.

Die Seinen hassen ihn, den Uebergewaltigen, den keine That der Milde schmückt.

Soll ihn aber sein Volk nie lieben lernen? – ihn, den einst eine Cilgia Premont geliebt hat?


13.

Aus Mangel an Anhalten schlief die Untersuchung über das geheimnisvolle Verschwinden Sigismund Grubers ein. Hauderer um Hauderer, die man verhaftete, brachten den Nachweis, daß sie sich zu der verhängnisvollen Zeit in anderen Teilen des Landes aufgehalten hatten.

Niemand war darüber froher als Cilgia. Länger als üblich ist, trug sie um den Toten Trauerkleider; sie wollte zeigen, daß sie sein Andenken in Ehren halte, und die stolze ernste junge Frau und ihr Knabe, das blonde Bürschchen voll lachender Frische, erfuhren zahlreiche Zeichen der Teilnahme.

War sie verdient?

Cilgia selbst dachte manchmal schwer und anhaltend darüber nach – ja in tiefer Unruhe, mit Gewissensvorwürfen, denn mit tödlichem Erschrecken spürte sie, wie leicht sie Sigismund aufgegeben hatte. Gewiß hatte sie ihm ehrliche, herzliche Thränen nachgeweint, oft in die stille Gebirgsnacht gelauscht, ob er nicht doch noch geritten komme. Und wäre er dahergesprengt, so hätte sie ihm freudig das Haus aufgeschlossen.

Sie hatte gezögert, ihr Geschäft aufzulösen; sie hatte länger, als die Wahrscheinlichkeit erlaubte, gehofft, daß er wirklich wiederkäme.

Aber alles doch mehr um des vaterlosen Bübchens als um ihrer selber willen.

Hätte ihre Ehe nach dem Ereignis von Campocologno, nach dem Zusammenstoß Markus Paltrams mit Sigismund Gruber, nach der Beichte des alten Thomas noch irgend ein Glück bergen können? Sie war ehrlich genug, vor sich selbst mit „Nein“ zu antworten. Sie war die Natur nicht, die einen Mann ertrug, auf dem in der Oeffentlichkeit oder im stillen ein Makel haftete. Zwischen ihr und Sigismund Gruber wäre es zu Kämpfen gekommen, die schlimmer gewesen wären als das Sterben. Sie konnte, davon war sie im Innersten überzeugt, an den toten Sigismund freundlicher denken als an den lebendigen. Und es jammerte sie um den stattlichen Mann, der nicht stark genug gewesen war, Fehler seiner Jugend zu besiegen, und deswegen in der Blüte der Jahre hatte zu Grunde gehen müssen.

Herzlich konnte sie um ihn weinen.

Oft und oft prüfte sie ihr Gewissen, sprach sie sich in schlaflosen Nächten mit dem alten Lorenz Gruber, dessen Andenken sie heilig hielt, über ihre kurze Ehe mit Sigismund aus.

Sie sah ihn leibhaftig, den rechtschaffenen schwerfälligen Alten, mit den klugen Augen, mit dem wallenden Bart, mit den silbernen Knöpfen am Rock und dem breiten gestickten Gurt.

Und siehe da – ihr war, der alte Gruber verstehe sie und billige es, daß sie keinem Menschen mit einem Wort oder mit einer Miene den gräßlichen Verdacht verrate, wie Sigismund untergegangen sei. Nicht einmal Pfarrer Taß, dem herzlieben Freund und Berater in der schweren Zeit!

Lange wies sie den Gedanken weit von sich, daß Markus Paltram Sigismund getötet haben könnte. Sie besiegte ihn aber nicht, besonders nicht, seit sie von dem Gerücht hörte, der graue Jäger sei im Herbst angeschossen aus dem Gebirge zurückgekehrt.

Und – sie spürte es wider Willen – es war auch eine Stimme in ihr, die Markus Paltram verteidigte. War Sigismund Gruber durch seine Hand gefallen, so hatte es Markus Paltram doch nicht ohne Not gethan! Sigismund Gruber hatte den Tod gesucht!

In herben Schmerzen schweigt sie – sie schweigt um ihres sonnigen Buben willen.

Durfte sie sprechen: „Ihr alle wißt nicht, was ich weiß – ihr habt die Beichte eines unglücklichen Mannes nicht gehört, der vor mir auf den Knieen lag, der in entsetzlichen Selbstvorwürfen sein Leben verfluchte.“ Durfte sie sagen, was ihre innerste Gewißheit war: „Sigismund hat dem Leben Markus Paltrams viele Wochen nachgestellt. Ich halte meinen Mann für den Schuldigen!“ Durfte sie das erzählen – auch nur ihrem Oheim?

So litt und stritt Cilgia.

An reichem Trost im schweren Jahre fehlte es ihr nicht – sie brauchte nur den blonden Lorenz mit den blauen Augen, ihren verständigen, frohsinnigen Buben anzusehen, so war ein Sonnenstrahl schon da. Oft kam der gemütliche Pfarrer. Selbst das eisgraue alte Meßnerlein sprach einmal vor. Der Landammann, der alte feine, etwas eigensinnige Herr, ritt nie nach Tirano, ohne daß er zu einem Gespräch hereingetreten wäre, und einmal hing es an einem Haar, daß er bei ihr Melcher, dem Händler, begegnet wäre. Selbst Lorsa mit seiner jungen Frau war einmal da. Luzius von Planta schrieb dann und wann – sie lebte mit dem Engadin.

Aber freilich – die Freunde alle meldeten nicht viel Erfreuliches – Niedergang, überall Niedergang – und die Straße, die man baut, kommt zu spät.

Doch regt sich etwas im schweren Engadinergeblüt!

Und plötzlich ist ein wundersamer Gruß aus fernem Süd erklungen: „Lieder von der Bernina!“

Das kleine hübsche Buch liegt auf ihrem Schoß. „Romanische Gedichte von Konradin von Flugi“ heißt der Untertitel. – Der Druckort ist Chur.

Luzius von Planta hat die Herausgabe besorgt.

Ein verträumtes Lächeln gleitet über das kleine Buch – die Gedanken Cilgias gehen zurück nach Fetan, wo der unbehilfliche Herr Konradin die ersten unbehilflichen Verse stammelte und sie die einzige Vertraute seiner geheimen Kunst gewesen war. Was ist aus dem unreifen, zagenden Herrn Konradin geworden? Von seinem Bruder, der in Paris in diplomatischen Diensten stand, ist er auf eigene Füße gestellt worden, und seit drei Jahren ist er der Privatsekretär des Königs von Neapel.

Herr Konradin ist am Hofe ein einflußreicher Mann und das Volk Neapels schätzt den schlichten Bündner, der es wagen darf, der Verschwendungssucht des Königs mit freimütigen Vorstellungen entgegenzutreten.

Sein Herz aber ist im Engadin geblieben.

O, man spürt es den Liedern schon an, wie sie entstanden sind – aus tiefem Heimweh, das dem Dichter alles, was Engadin heißt, mit Sonne überstrahlt! Und doch sind es nicht die Strophen einer müden Seele, sie sind voll tapfern Glaubens, daß der Heimat wieder hellere Tage aufgehen. In reizenden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0776.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)