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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

noch eine Menge großer und kleiner Lichtnebel auf, die gestirnte Erde überstrahlt mit ihrer Pracht die Sternenwelt des Himmels, und die Myriaden nächtlicher Feuerpunkte erweisen die unermeßliche Zahl der menschlichen Wohnstätten, die sich in den glücklichen Rhein- und Mainlanden drängen.

Die Johanniswürmer der Eisenbahnzüge kriechen und schimmern und die Scheinkäfer der Dampfboote ziehen auf dem immer noch metallisch, ja mit Pfauenfederfarben glänzenden Band des Rheins.

Am Himmel sinkt die Mondsichel gegen ferne Berge, ein sanftes Helldunkel erfüllt die Luft. Wenn das Land auch alle Farben ausgelöscht hat, so erkennen wir doch die Umrisse der Gegenstände auf der Erde fast so scharf wie am Tag – selbst die Wanderer auf den Straßen. Im Tau der Nacht, der sich an ihre Hülle setzt, sinkt die „Wega“, ein frisches Lüftchen regt sich, der Ballon dreht sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, er treibt gegen Höchst und Frankfurt und fällt langsam so tief, daß der Guiderope, das Schleppseil, dessen letzte dreißig Meter frei hängen, dann und wann am Boden schleift.

Mächtig wächst und schwillt vor uns das Lichtermeer Frankfurts, seine aufsteigenden Strahlen setzen die Riesenkugel der „Wega“ in Transparenz, und so freudig der Gedanke ist, in der Nähe der Menschen zu sein, so wollen wir doch nicht an den Schornsteinen und Türmen der Stadt hängen bleiben.

„Ein halber Sack Sand über Bord!“ – Wie ein goldener Regenstreif rieselt er in die Tiefe.

Unter uns glotzen die Lokomotiven in die Nacht, stehen die beleuchteten Züge, schallen die brausenden Stimmen des Verkehrs.

Wir fliegen – es ist abends zehn Uhr – über den mächtigen Bahnhof, über das von einem silbernen Lichtduft umhüllte Giebelgewirr der Stadt, wir blicken in die hellerleuchteten Straßen, die wie ein Labyrinth von Lichterkränzen sich um die ragenden dunklen Massen der Häuser schmiegen. Wir sehen die Menge der Spaziergänger und hören das Gesumme ihres Plauderns – ob wohl ein Sternengucker unter den tausend Wandlern ist, ob er den Riesenmond, die von den Bogenlichtern der Tiefe beleuchtete „Wega“, entdeckt?

Nein – sie alle gehen ruhig ihres Weges, und obwohl die „Wega“ in den Vormitternachtsstunden dreimal die Türme und Dächer Frankfurts kreuzte, habe ich nie gehört oder gelesen, daß irgend einer von den paar hunderttausend Einwohnern die kreisende Kugel beobachtet hat.

Die Menschen der großen Städte forschen zum Feierabend nur selten in den Rätseln des Himmels.

Unser junger Wiesbadener aber meint: „Wie reizend säße sich’s dort unten bei einem feinen Diner im Restaurant – –.“ Es ist mir entfallen, welches er nannte.

Als ob nicht auch die Gondel der „Wega“ ein für unsere Bedürfnisse wohleingerichtetes Hotelchen wäre. Es ist zwar nicht einmal zwei Meter lang und kaum anderthalb Meter breit und gleicht mit den zwölf Stricken, die sich über unseren Köpfen in den Ring zusammenziehen, eher einem Vogelkäfig als einem Speisesaal. Aber in einer Ecke ist ein kleines gewähltes Büffett; als Stuhl und Tisch dienen die Sandsäcke, über die wir Teppiche gebreitet haben. Und Kellner sind wir uns selbst.

Auch die Luftschiffer leben nicht von Luft. Hell klingen die Rheinweingläser! – Es ist etwas Königliches um ein Abendbrot im Ballon.

Von Frankfurt treibt das Luftschiff in jene bergumwallte Bucht der Mainebene hinein, in der die Städtchen Homburg, Oberursel, Königstein und Soden am Rand des Taunus liegen.

In diesem Kessel geraten wir in eine merkwürdige sanfte Rundströmung der Luft. Die „Wega“ fährt mit uns, als sei sie an einem Faden geheimnisvoll festgehalten, als seien wir verzaubert und gebannt in diesen Kreis, die dunklen Berglehnen entlang über Homburg, Höchst und Frankfurt wie ein Karussell, und wir grüßen die Schlösser von Cronberg und Königstein, die wie Burgen des Märchens stumm und starr in die Nacht ragen. Die Mondsichel sinkt im Westen hinter eine Wolkenbank und die Finsternis nimmt überhand. Tief gleitet der Ballon, von dem der Tau niederrieselt, über die pechschwarze Gegend.

Auf einer Straße unter uns gehen zwei Männer – sie unterhalten sich lebhaft – wir verstehen jedes ihrer Worte:

„Leichtsinnig ist die Hansel, die fällt ’rein!“ versetzt der eine, worauf der andere ebenso eifrig erwidert: „Die fällt nicht ’rein, sie scherzt nur, sie nimmt ihn aber nicht.“

Wer mag die scherzhafte Hansel sein?

Wir rufen den Plaudernden „Guten Abend!“ zu, doch hören sie uns nicht, denn die menschliche Stimme, die leicht nach oben steigt, geht nur schwer in die Tiefe.

„Ein wenig Sand auf ihre Hüte!“ – Und siehe da, vor dem rauschenden Regen verstummt ihr Gespräch – sie bemerken das Ungeheuer, das scheinbar nur haushoch über ihnen durch die Nacht fliegt – sie flüchten sich mit einem Schreckensruf, als greife der Teufel nach ihren armen Seelen – sie stehen still – sie pfeifen durch die Finger – das nahe Dorf wird lebendig. „Ein Ballon! – ein Ballon!“ schallt’s herauf, und einige rufen: „Bitte, steigen Sie doch bei uns ab – wir helfen Ihnen gern!“

Allein, ehe wir uns die freundliche Einladung überlegt haben, eilt die „Wega“ davon in schlafende Gegenden. Die Mondsichel ist untergegangen, mählich erlöschen die Lichter der Städte, die roten Punkte im Lande vergehen, nur der Bahnhof von Frankfurt steht wie eine irdische Sonne in der Nacht.

Unter uns rauschen die dichten Hochwälder des Taunus leis und feierlich; oft berührt nicht nur unser Schleppseil, oft streift selbst unser Korb die Wipfel der Forste, er wiegt sich darauf wie ein Boot auf den Wellen und unter uns bricht das aufgeschreckte Wild durch die Stämme, die dürren Aeste brechen unter seinen Hufen, und röhrend schreien die Tiere vor Angst.

Auf fernen Türmen schlagen die Glocken Mitternacht.

Mit einer Saat von Sternen, wie man sie sonst nur in einer Winternacht oder im Hochgebirge erschaut, funkelt der Himmel, wie Silberrauch zieht sich die Milchstraße hin am blaudunklen Firmament. Die Lichter, die noch auf der Erde glühen, sind leicht zu zählen. Was deuten sie? – Dort sitzt vielleicht eine Mutter am Bett ihres kranken Kindes und lauscht seinem Atem – dort säumt noch ein Liebespaar in seligem Traum und schmiedet Pläne des Glücks – beim dritten Licht vielleicht hockt ein einsamer Autodidakt über seinen Studien.

Die Phantasie ist rege in der Nacht, weit, weit geht der Gruß der Gedanken.

In der Finsternis schreibe ich Postkarten mit Freundesadressen in aller Welt. Ihrer sechzehn fliegen aus dem Korb hinab auf Wald und Feld.

Und ihr Schicksal? Fünfzehn sind von freundlichen Findern zur Post gegeben worden und haben, die einen überraschend schnell, die andern erst nach Monatsfrist, ihr Ziel erreicht.

Die Antwort aber, die nach einigen Tagen auf eine dieser Karten kam, erschütterte mich wie selten ein Ereignis.

„Lieber Freund!“ lautete sie. „In der Nacht, wo Sie Ballon gefahren sind und unter den sonderbarsten Umständen an mich gedacht haben, habe ich die Leiche meiner lieben jungen Frau, die Sie auch gekannt haben, aus dem Spital zu Z., wo sie plötzlich gestorben ist, über den Flüelapaß in die Heimat geführt.“ – – –

Diese Karte kam aus dem Engadin.

So ist das Leben! Der eine jagt fröhlich durch den Himmel und der andere sinkt vor Leid fast in die Erde.

Langsam zerrinnt im Ballon Viertelstunde um Viertelstunde. Auf den Ballastsäcken sitzend, die Teppiche über die Knie gezogen, plaudern wir – wir plaudern von frühern fröhlichen Fahrten. -Die Nacht wird kühler – ich ziehe die Pelerine des Mantels über den Kopf – „nur ein wenig nicken,“ denke ich in wohliger Müdigkeit – und höre noch die Stimme des Kapitäns, der meinem Begleiter ein Abenteuer aus Aegypten erzählt. – Dann höre ich sie nicht mehr.

Drei Stunden habe ich im Ballon fest geschlafen, deutlich erinnere ich mich an das Erwachen.

„Du bist nicht zu Hause,“ sage ich mir, „du bist irgendwo auf einer Reise! – Aber in welcher Stadt, in welchem Hotel?“ Ich durchgehe alle Orte, die ich in den letzten Tagen besucht habe.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0796.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)