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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

In Tirano überfiel die jungen Engadiner schon früh am Abend eine auffällige Tanzlust.

„In unsern Dörfern ist doch keine Freude mehr, wir wollen wieder einmal die Nacht durchtanzen!“ Und manche thaten, als hätten sie noch eine Reise nach Bormio oder Chiavenna vor.

Die Alten brachen nach der Heimat auf – sie blieben aber in Puschlav hängen. Denn im alten Wirtshaus war viel Gesellschaft aus dem Engadin.

Andreas Saratz schaute aus dem Fenster und rief jeden herein. „Es kommt mir auf eine Maß nicht an, was wollt ihr auch so früh über den Berg?“

Und die trinkfesten Engadiner sammelten sich. Der Wein wurde immer besser, die Gesellschaft lauter.

„Wir bleiben da und sehen uns morgen das Jugendfest der Puschlaver an. Es ist zu spät, über die Berninahöhe zu reiten. Wir kommen tief in die Nacht!“

„Es ist zu spät,“ wiederholte der Nachbar und kraute sich im Haar, niemand mochte sich vom Trunke trennen.

„Gut, ich sehe mir das Jugendfest auch an!“ So Mann um Mann.

Gleich wie die im Wirtshaus fanden die paar Gäste, die im Garten Cilgia Premonts saßen, nicht die Zeit, sich darum zu kümmern, was auf dem Berninawege ging.

Sie sahen die späten Reiter nicht, die durch eine Hintergasse des Fleckens jagten.

Sie lauschten den Weisen eines Posthorns, das Frau Cilgia zur Verschönerung des Abends in einiger Entfernung blasen ließ.

Und der Podesta plauderte mit dem Landammann, die liebenswürdige, schöne Wirtin unterhielt alle Gäste zusammen.

Melcher war bester Laune. Als er mit Frau Cilgia unter den knospenden Bäumen dahinschritt, sagte er: „Gerecht seid Ihr – Ihr führt den Landammann g’rad’ so anmutig in die Falle wie mich bei der Rückkehr Konradins!“

Sie winkte ihm Schweigen und lachte nur mit den Augen.

Am andern Tag aber zogen bekränzte Kinder mit Musik durch den Flecken Puschlav.

In dem blumengeschmückten Schulzimmer hielt der Landammann eine sehr schöne Rede auf Cilgia Premont. „Ich sage Premont, denn der Name ist uns im Engadin geläufiger und erinnert uns an den edelsten Bürger Puschlavs, dessen unvergeßliches Beispiel von Gemeinnützigkeit durch Euch, edle Frau, fortlebt! So lange wir solche Frauen unter uns haben, brauchen wir um die Zukunft des Bündnerlandes nicht zu bangen!“

Und aus silbernem Becher trank er ihr mit der gehaltenen Liebenswürdigkeit des Edelmannes Gesundheit zu.

Nun saß Cilgia doch auf glühenden Kohlen. Aber das Kinderfest nahm den reizendsten Verlauf. Die Freundschaft der Veltliner und Puschlaver ging in hohen Wogen – und man sprach von den großen Hoffnungen der Wiedererwerbung des Veltlins, denn manche Anzeichen deuteten stark darauf, daß die französische Herrschaft wanke, ja man erwartete bereits, daß die Oesterreicher das Thal besetzen – natürlich nur vorübergehend besetzen würden, um es dann gegen eine mäßige Entschädigung den rechtmäßigen Herren, den Bündnern, abzutreten.

So sprach man mancherlei, und der gemütliche Pfarrer Taß brachte einen Toast aus auf Herrn Konradin, der das Romanische zu einer Dichtersprache emporgeweiht, sie mit unvergänglichen Blumen der Poesie geschmückt habe.

„Daß er heute nicht bei uns ist!“ schmollte Cilgia.

„Er läuft in den Dörfern nach alten Volksgesängen herum – das ist jetzt sein Steckenpferd!“

Der Landammann sprach es in mißbilligendem Ton, am entgegengesetzten Ende der Tafel aber schneuzte sich Melcher.

Man sprach auch von Markus Paltram, und Pfarrer Taß erzählte eine merkwürdige Geschichte:

„Er beginnt wieder zu heilen. Ein gewisser Signore Belloni, ein sehr reicher Mailänder, stürzte am Berninawege und erlitt mehrere Brüche. Man brachte den Hilflosen, der sich nicht rühren konnte, ohne in großen Schmerzen aufzuschreien, zu mir ins Pfarrhaus. Da liegt er nun seit acht Tagen. Er muß schon, wie sich der Unfall ereignete, etwas von Markus Paltram gehört haben. Er verlangte den Mann, der die Schmerzen stillen könne. Da holte der Meßner den grauen Jäger. Er kam. Der Mailänder, der vor Schmerzen halb wahnsinnig war, versprach das Weiße aus dem Auge, wenn er ihm die Schmerzen lindere, etwas Schlaf verschaffe. Paltram wurde heftig: ,Das kann ich nicht, könnte ich es, so thäte ich es doch nicht! – es ist eine schlechte Kunst.‘ Aber er flickt jetzt den Mailänder wie einst die Geißhirtin mit Reiben und Drücken, und in sechs oder sieben Wochen, behauptet er, könne Belloni wieder zu Pferde steigen. Und das Sonderbarste: der Mailänder glaubt ihm wie ein Kind.“

Als der Pfarrer so erzählte, stand neben ihm mit großen Augen der kleine Lorenz, sein gespanntes, fragendes Gesicht verriet, daß er sich kein Wort entgehen ließ.

Plötzlich stürmte er zu seiner Mutter – die etwas verträumt zugehört hatte.

„Mutter, ich weiß, was ich, wenn ich groß bin, werde – etwas Rechtes, Mutter – ein Arzt wie der König der Bernina!“

Und seine Augen leuchteten.

Kam man auf Markus zu sprechen, so ging die Rede nicht leicht aus. Man erzählte, er habe vor nicht langer Zeit im Zernetzer Wald ein junges Bärchen ausgenommen und sein Kind viele Wochen damit spielen lassen, bis das Tier seine Raubnatur zeigte und er es fahrenden Leuten schenkte. Man sprach von seiner Grausamkeit gegen die Bergamasken, von den tollen Sagen, die sie über ihn verbreiteten.

„Die neueste,“ berichtete Melcher, „ist die, daß ein toter Jäger aus dem Gletscher aufstehen und ihn richten werde.“

Die Gesellschaft lachte dazu. Cilgia aber erhob sich blaß – und da fiel es den Herren ein, daß es Zeit sei, heimzureiten.

Als sie die Berninahäuser erreichten, hörten sie sonderbare Mär:

„In St. Moritz sind heute morgen etwa zwanzig junge Bürger aus Italien zurückgekehrt und ist nach überliefertem Recht und Brauch die Maiengemeinde abgehalten worden. Fortunatus Lorsa wurde von ihr als Vorsteher gewählt, bis der alte von Puschlav zurückgekehrt sei. Fast einhellig hat die Gemeinde beschlossen, den Bau eines Bades zu gestatten. Die junge Partei hat die alte Halle schon niedergelegt; das Baugespann für die neue errichtet und es mit Böllerschüssen begrüßt.“

Der alte Landammann zitterte vor Erregung – er konnte lange nicht sprechen. „Diese Beschlüsse sind ungültig!“ stieß er endlich hervor, und er maß Melcher mit Blicken alten Grolls.

„Ihr seht, daß ich nicht dabei war,“ versetzte der Viehhändler kühl. „Es geht mir wie Euch. Die Jungen werfen uns unter das alte Eisen. Sie haben mich gebeten, daß ich nichts zu ihren Plänen helfe!“

„Altes Eisen?“ zürnte der Landammann. „Das wollen wir sehen!“

Umsonst schlug Pfarrer Taß die Töne der Versöhnlichkeit an, der Junker blieb unzugänglich. Er spürte nur den heißen Aerger über die List der Jungen. Er sprach kein Wort, und der Pfarrer fand es für gut, die beiden Gegner nach St. Moritz zu begleiten.

Das Dörfchen war, obwohl es bald auf Mitternacht ging, noch hell erleuchtet. Auf der Höhe des alten Wallfahrtskirchlein stand ein Triumphbogen und darin hing ein Transparent mit einer Inschrift.

Der Landammann war wütend. „Auch den Hohn wagen sie!“ keuchte er.

Als aber die Reiter sich näherten, lasen sie: „Gruß dem Landammann, dem Gesandten des rhätischen Volkes!“

Und vom Kirchlein her trat an der Spitze der Jungmannschaft Fortunatus Lorsa mit gezogenem Hut und bat die Reiter, zu halten.

„Hochzuverehrender Vorsteher!“ begann er. „Wir vom Bund der Jugend des Engadins, wir St. Moritzer vorab, sind durch den edeln Herrn Luzius von Planta und andere bei der Regierung in Chur vorstellig geworden, daß dem Engadin in der Gesandtschaft, die nach Wien geht, ein besonderer Vertreter gebühre, und wir wußten keinen höhern und würdigern Namen vorzuschlagen als den Euern! Heute haben wir die Freude und die Ehre, Euch als den Gesandten des Thales zu begrüßen, und bitten Euch, daß Ihr das wichtige Amt nicht ausschlagt!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0810.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2023)