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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Es ist ein ganz harmloser Wunsch,“ sagte er beruhigend. „Sie brauchen nicht solche Rotkäppchenaugen zu machen. – Lassen Sie uns noch ein Stündchen zusammen durch das weihnachtliche Berlin gehen.“

„Nein, nein …“ sie schüttelte ängstlich abwehrend den Kopf, „das geht nicht … das kann ich wirklich nicht. Ich bin noch niemals abends ausgegangen, seit ich hier bin …“

In komischer Feierlichkeit hielt er ihr den verbundenen Daumen entgegen.

„Ich habe mein Blut in Ihrem Dienst vergossen, Fräulein Berger, und Sie schlagen mir die kleine Bitte ab!“

In all ihrer herzbeklemmenden Angst mußte sie lachen. Er sah gar so drollig aus. Und vielleicht hatte er recht – es war doch gewiß nichts Böses dabei, wenn sie sich von ihm noch ein Weilchen herumführen ließ in den flimmernden, blitzenden Straßen. Eine unbändige Sehnsucht kam jählings über sie, eine Sehnsucht nach der kühlen, klaren Winterluft, nach dem Knirschen des Schnees unter ihrem Schritt, nach Licht und Frohsinn, nach einem Menschen, mit dem sie plaudern könnte …

„Es ist schon so spät,“ sagte sie zögernd, halb bang, halb nachgebend, „um zehn Uhr müßte ich ganz sicher zu Hause sein …“

Er unterdrückte mühsam einen Freudenschrei, er durfte ihr zaghaftes Zutrauen nicht erschüttern mit seiner tollen Fröhlichkeit.

„Punkt zehn Uhr sind wir zu Haus, natürlich,“ sagte er, so vernünftig als möglich. „Ziehen Sie flink ihren Mantel an …“

Sie strich mit den Händen zärtlich über das Paket. „Ich möchte doch erst … es ist von der Mutter!“

Eine warme Weichheit war in ihren Augen und in der Stimme, sobald sie der Mutter erwähnte.

„Dann will ich unten auf Sie warten, Fräulein Klärchen. In einem Viertelstündchen vielleicht, sonst bleibt uns so wenig Zeit,“ bat er herzlich.

Sie nickte ihm zu. „Ich werde pünktlich sein.“


In wahrem Sturmschritt, immer drei Stufen auf einmal nehmend, raste er die Treppen hinab und im Vorderhause wieder empor, daß er das ahnungslose Dorchen, welches im Halbdunkel des Treppenhauses gerade einen kleinen Klatsch mit der Köchin des zweiten Stockwerkes abhielt, beinahe über den Haufen rannte.

„Gott, Herr Assessor, was hab’ ich mich erschreckt!“

Er stammelte etwas, das eine Entschuldigung bedeuten sollte, aber seine Gedanken waren ganz wo anders.

„Da will ich dem Herrn Assessor man gleich den Spiritus wieder anstecken. Ich hab’ ihn vorhin ausgepustet, es hätte sonst leicht ein Unglück geben können.“

„Danke schön, Dorchen, lassen Sie nur – ich gehe noch einmal fort.“

Dorchen riß erstaunt die runden Augen auf. Drin im Zimmer standen die Pakete, noch gar nicht aufgemacht, die selbstgeschnittenen Wachslichter waren noch gar nicht angebrannt worden, und da wollte er fort? Er war doch sonst nicht so! Sollte etwa – –

Dorchen hätte beinahe laut heraus geschrieen über die Idee, die grell und leuchtend in das Chaos ihrer grübelnden Gedanken fiel und mit einem Schlage auch das Verworrenste klärte: „Verliebt!“

War er nicht drüben gewesen, im Hinterhaus? Hatte er nicht – Dorchen sah der Sicherheit halber nach der Uhr – eine volle halbe Stunde dort oben zugebracht? Und nun wollte er ausgehen, vielleicht gar mit …

Jedenfalls nahm sie sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, und als Adolf Berger, mit dem Paletot auf dem Leibe und einem Herzen voll widerstreitender Gefühle unter der Weste, hinunterging, um Fräulein Klärchen Berger zu treffen, stand am geöffneten Fenster seines Wohnzimmers eine kleine dralle Person und spähte mit scharfen Augen auf die Straße hinab.

„Stimmt!“ sagte Dorchen sehr befriedigt, als sie die Hausthüre mit dumpfem Schlag zuklappen hörte und neben dem grauen Paletot etwas Schmales, Leichtfüßiges hinwandeln sah. Und dann riegelte sie das Fenster sorgsam zu und sah noch einmal nach dem Kachelofen.

„Verliebte Leute brauchen zwar nicht viel Hitze,“ meinte sie sachverständig, „aber zur Nacht wird’s kalt, und einen Schnupfen soll ihm der Ausflug nicht eintragen.“


Ja, es „stimmte“ wirklich, obgleich für Klärchen Berger das Fortgehen nicht so einfach gewesen war.

Zuerst hatte sie ihre Christbescherung aufgebaut, jedes einzelne Stückchen ans Herz gedrückt und unter heißem Erröten erwogen, ob „er“ auch wirklich nichts von all den intimen Sachen gesehen habe.

Dann hatte sie Mütterchens Brief gelesen, unter Thränen und Küssen, und doch lange nicht aufmerksam genug, wie sie sich später reuevoll eingestand. Und als sie sich endlich zum Spaziergang rüstete, da war sie wohl zehnmal in Versuchung gewesen, Hut und Umhang wieder hinzulegen und still zu Haus zu bleiben.

Wenn Mütterchen eine Ahnung von ihrem Vorhaben hätte …

Ob er der Mutter wohl gefallen würde? Gute, ehrliche Augen hatte er – das Mädchen träumte still für sich hin – ja, die hatte er wirklich, und wenn er lachte, konnte er aussehen wie ein Kind.

Wie sonderbar: gestern hatte sie noch gar nichts von ihm gewußt, und heute war’s ihr, als wären sie gute, alte Bekannte, und nun machte sie sich sogar bereit, mit ihm in den Weihnachtsabend hinauszugehen!

Bis jetzt hatte sie von der ganzen Weihnachtspracht noch so gut wie gar nichts gesehen, sie getraute sich ja kaum, vor einem der herrlichen Schaufenster stehen zu bleiben, aus lauter Angst, angeredet zu werden. Und nun sollte sie das alles genießen dürfen im Gefühl eines festen, sicheren Schutzes …

„Frau Prieke!“

Die Buchbindersfrau unterbrach ihre Arbeit am Herd. „Was giebt’s denn, Fräulein?“

„Frau Prieke, Sie haben doch den Herrn gesehen, der mir vorhin das Paket brachte …?“

Die brave Frau nickte etwas steif, a conto des langen Herrenbesuchs. Sie hielt auf die Reputation ihrer Zimmerdamen, und so eine stille, feine, wie das jetzige Fräulein, hatte sie noch gar nicht gehabt. Wenn sich da aber etwas anbändeln sollte mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0820.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)