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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der Entrüstung in den funkelnden Mädchenaugen. Jolande Paltram war so schön in ihrem Zorn!

Aber der Weg ist weit – weit! – und als das junge Paar durch den Frieden der Dörfer schritt, schmiedete es Wiedersehenspläne.

Blaß und hoch stand die Bernina am blauen Mondnachthimmel.

„Ich raste jetzt einen Tag bei meinem Großonkel, dem Pfarrer zu Pontresina, übermorgen in der Frühe gehe ich über die Bernina nach Puschlav. Dann kehre ich zum Großonkel in die Ferien zurück und wir können uns wiedersehen!“

So der leichtblütige Student.

Sie dachten nicht weiter – wiedersehen und aneinander Wohlgefallen haben – das ist ja nichts Böses!

Als sie aber gegen Pontresina schritten, atmete Jolande schwer.

„Ihr seid gewiß zu müde,“ meinte Lorenz teilnehmend.

„Nein,“ flüsterte sie, „ich ginge noch weit mit Euch.“

Und als sie das Dorf Pontresina erreichten, der Mond durch die Waldspalte des Rosegthales leuchtete, als sie sich die Hand zum Abschied boten, da bebte die ihrige in der seinen, und sie ließ sie lange darin – etwas wie ein Seufzer ging über ihre Lippen.

„Was habt Ihr, Jolande?“

Eine heiße Flamme stand in ihrem Gesicht.

„Darf ich Euch etwas sagen?“ bebte ihre Stimme. „Aber wenn Ihr deswegen übel von mir denken würdet – es wäre mein Tod!“

„Redet nur, Jolande! Euch nehme ich gewiß nichts übel.“

Da schlug sie die dunklen Augen nieder.

„Ich will Euch übermorgen, wenn Ihr nach Puschlav geht, an der Straße erwarten. Ich trage das Jägerkleid, damit die Leute glauben, ich gehe auf die Jagd, und wir können dann noch ein Stündchen miteinander wandern.“

Sie stotterte es leise in brennender Scham. Fast verlegen nahm Lorenz das rasche Wiedersehen an – jugendliche Abenteuerlust nur besiegte die Bedenken.

Sie war so eigenartig und so schön – Jolande Paltram – die Jägerin.

Und als er am zweiten Tag Pfarrer Taß verlassen hatte, gesellte sich oberhalb Pontresina in funkelndem Morgenschein zu ihm der Jägerknabe, den Filz auf dem Kopfe, das Gewehr an der Schulter.

„Jetzt bin ich Landolo!“ lächelte der schöne Junge.

Der Student aber gab ihm mit einer heißen Beklemmung die Hand.

„Gefalle ich Euch so nicht?“ fragte Landolo mit einem Ausdruck der Angst, und grenzenlose, glühende Scham lag in dem schmalen Gesicht.

„Ich muß mich zuerst daran gewöhnen,“ erwiderte Lorenz in herzlicher Güte.

Jolande wußte plötzlich, sie hätte nicht so vor ihrem jungen Freunde erscheinen sollen – ihr war, als sei das Knabenkleid von Nesseln.

Bald aber kamen sie über die Peinlichkeit der ersten Begegnung hinweg und wanderten und plauderten über die Dinge am Weg. Sie liefen über die Sprudelwellen des Berninabaches zum Morteratsch und ruhten auf den Blöcken am Fuß des Gletschers.

Die Stadt im Eise unterhalb der Verlornen Insel strahlte im Morgenfunkenspiel. Und sie sprachen von der Sage, die im Donnern des Gletschers seufzt.

„Ich würde es nicht wie die Maid von Pontresina halten,“ flüsterte Landolo, „ich würde treu warten – – aber wenn er nicht käme – – – –“

Und in finsterm Sinnen brach sie das Wort ab – in ihren Schläfen hämmerte die Leidenschaft.

Sie war nicht mehr die herbstolze Jolande, nicht mehr der Jägerknabe, dessen Auge zürnte: „Wagt es nicht, mich anzurühren!“ Sie dürstete nach einem guten Wort ihres Kameraden.

Er aber schwieg beklommen – nein, diesen Ausgang des Abenteuers hatte er nicht gewollt!

Sie schob seine verlegene Stille auf ihr Kleid.

Erbarmen – Erbarmen! flehten ihre Augen, sage nichts wegen meines Kleides! Und um ihren Mund zuckte es rührend.

Plötzlich erhob sie sich: „Ich gehe jetzt heim.“

Und vor den Schmerzen Jolandes wurde auch Lorenz weich. Mit lieben Worten bot er ihr die Hand.

Da lehnte Jolande das Haupt auf die Schulter des Jünglings.

Und sie stöhnte: „Lorenz – vergebt mir – in diesem Kleid werdet Ihr mich nie mehr sehen!“

Heiße Thränen rannen ihr über die glühenden Wangen.

Und verwirrt suchte der Jüngling nach Trost für seinen armen Kameraden – ein plötzlicher Einfall – er küßte Jolande.

Da brach aus ihren Thränen hervor ein Leuchten des Glücks.

Sie stammelte in Scham und Liebessturm viel Thörichtes – ein Liebesjubel jauchzte aus den Worten, eine unheimliche Stärke des Gefühles.

Und dennoch war alles, was sie sprach, von ergreifender Reinheit.

Schwer trennten sie sich.

Wie geschlagen und mit wehem Herzen stieg Lorenz Gruber nach Puschlav.

Jolande in Knabenkleidern – o, sie standen ihr gut! Aber was im Mondschein erwacht war, das war weggeflogen wie ein Traum, weggeflogen vor diesem Kleid.

Und sein Kuß war ein Kuß des Erbarmens gewesen.

Das Gewissen ließ ihm keine Ruhe, nach einigen Tagen beichtete er das wunderliche Reiseabenteuer seiner Mutter. Totenblaß hörte sie ihrem Sohne zu.

„Ich danke dir für dein Vertrauen,“ sagte sie, „ich werde, einst, wenn du ein reifer Mann bist, mit dir zu reden haben.“

Dann schwankte sie hinweg.

Wie oft hatte der alte einsame Pfarrer gewünscht, daß der muntere Lorenz nach Pontresina zu Besuch käme – sie aber hatte es immer und unter mancherlei Vorwänden abgelehnt. Seit die beiden Kinder zusammen gespielt, war sie nie ruhig gewesen.

Und nun waren sie doch zusammen durch die Nacht gegangen.

Einige Tage später wandte sie sich wieder an ihren Sohn: „Lorenz – es ist vielleicht für deinen künftigen Beruf nützlich, wenn du die Welt ein wenig ansiehst! Ziehe nach Italien! Hier hast du Reisegeld.“


Markus Paltram ist von Chur mit einem schönen Erlös für die Gemsen und beinahe heiter zurückgekehrt. Die Vorbereitungen für den Zug zum eidgenössischen Schützenfest sind im vollen Gang, in den Wäldern von Zernetz sind die Bären geschossen, über den Gletschern des Palü, wo die Geierhorste sind, will er einen Riesenraubvogel erlegen.

Landolo begleitet ihn – Landolo, der sein Knabenkleid nicht mehr tragen will.

„Thorheiten,“ zürnt der Vater, „man jagt doch nicht im Weiberrock!“ – Und Landolo fügt sich.

Sie wandern über Sassal Masone – in senkrechten blauen Tiefen liegt Puschlav – und der verschwiegene Landolo grüßt in Gedanken Lorenz, der dort unten wohnen muß.

Wann wird er nach Pontresina kommen?

Halb in einer Gletscherspalte verborgen, lauern Markus und sein Knabe stundenlang mit jener Geduld, die der Jäger reichlich üben muß.

Im fernen Blau kreist majestätisch wie der Geist des Gebirges der Geier, er sinkt, er rauscht gegen seinen Horst in der Höhle einer Felsenwand.

Da erspäht er das tote Tier, das ihm Markus Paltram als Lockbeute auf den Gletscher gelegt, er kommt mit ausgebreiteten Flügeln – die Kugel saust – der Vogel fällt und stürzt auf den untersten Rand des Eises nahe bei der grauen Steinhütte von Sassal Masone, die den sonderbaren Schmuck von Tierschädeln trägt.

Landolo jauchzt und klettert aus dem Versteck, er schwingt sich über die Brüche des Gletschers, das Jagdfieber ist in ihm lebendig und er ist behender als eine Gemse.

Gemächlich folgt der Vater. Der Knabe ruft etwas – es tönt wie ein Schreckensruf.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0843.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)