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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Fräulein Lafrenz,“ entgegnete er vorwurfsvoll, „können Sie noch fragen?“

„Fragen? ja natürlich, das hören Sie ja! Fehlt Ihnen etwas?“

„Fräulein Lafrenz,“ sagte er und seufzte so tief, daß es mich wirklich rührte, „soll ich vielleicht auch noch Jubellieder singen, wenn Sie morgen in aller Frühe auf so lange verreisen, daß ich Sie ganz gewiß nicht mehr zu sehen bekomme, ehe ich selbst wieder von hier fort muß?“

Jubellieder, nein, da hatte er recht, die brauchte er nicht zu singen. Ich hätte es sogar recht taktlos und unpassend gefunden, wenn er es gethan hätte.

„Ach was.“ sagte ich trotzdem wegwerfend, „das kann Ihnen doch einerlei sein!“

„So?“ Er sah mich an. Es war dumm und lächerlich von mir, aber ich fühlte, daß ich rot wurde.

„Wenn man wenigstens hoffen dürfte, daß Sie manchmal an einen denken, während Sie bei dieser schauderhaften alten Tante sind. Aber darauf ist wohl nicht zu rechnen?“ Er sah mich mit halbgeschlossenen Augen von der Seite an, und ich ärgerte mich, weil das alberne Rot nicht aus meinem Gesichte weichen wollte.

Deshalb kam es auch etwas schnippischer heraus, als ich eigentlich gewollt hatte, nun ich schnell antwortete: „Nein, darauf wird wohl schwerlich zu rechnen sein, und überhaupt –“ und dann wurde ich plötzlich unter seinem Blick verlegen, stotterte etwas von Wiedersehen in den Herbstferien, bis zu denen es ja gar nicht mehr lange hin wäre, machte einen sehr plötzlichen und verunglückten Abschiedsknix und ging davon, ohne ihm die Hand gegeben zu haben.

Als ich hundert Schritte weit gegangen war, wurde mir zu Mute, als wenn ich mich scheußlich benommen hätte, und ich verspürte die größte Lust, wieder umzukehren, irgend etwas sehr Nettes zu sagen und zu thun und – ja, wirklich, einen Augenblick war mir’s so, als möchte ich dem armen Menschen um den Hals fallen und ihm versprechen, daß ich jeden Tag an ihn denken wolle.

Aber natürlich that ich nicht dergleichen. Wie konnte ich denn, Mutters große, wohlerzogene Tochter von siebzehn Jahren! Ich bekämpfte diese ganz unvernünftigen Regungen mit aller mir innewohnenden Vernunft und Seelenstärke und ging meines Weges weiter.

Nein, wie hätte ich denn etwas so Unerhörtes thun können! Ein sonderbares Gefühl freilich war in mir, als wenn es eigentlich sehr hübsch gewesen wäre, ihm um den Hals zu fallen, und als wenn Tante Renate mich wohl auch zu einer anderen Zeit hätte einladen können; aber im Laufe des Abends ging es vorüber, und am nächsten Morgen brachte die Abreise so viel Unruhe mit sich, daß es gar nicht möglich war, an etwas anderes als an diese zu denken.

Reseda brachte eine Tafel Schokolade und einen Rosenstrauß an den Bahnhof. „Von Wulf,“ flüsterte sie heimlich, als sie mir die Blumen gab, und darüber ärgerte ich mich. Wie konnte sie sich da hineinmischen und warum zog er sie ins Vertrauen? Das mochte ich nicht, obgleich Reseda meine allerbeste Freundin war. Darum legte ich die Rosen auch ganz nachlässig und gleichgültig in das Gepäcknetz, und erst, als der Zug in voller Bewegung war, nahm ich sie wieder hervor und roch lange daran. Es waren wirklich sehr schöne Rosen, und es wäre schade gewesen, sie ganz unbeachtet zu lassen.

Die Reise verlief ohne Abenteuer, denn Mutter hatte mich natürlich in eine Damenabteilung hineingestopft, und es war mir also unmöglich, irgend etwas Nennenswertes zu erleben. Die jungen Mädchen in Novellen und Romanen haben wahrscheinlich alle sehr vorurteilsfreie Mütter, denn sie fahren meistens „Nichtraucher“ und erleben auf Reisen immer merkwürdig viel!

Als ich umzusteigen hatte, überlegte ich einen Augenblick, ob ich nicht auch einen solchen Wagen wählen sollte, aber ich weiß nicht, wie es kam: als ich den Fuß schon auf dem Trittbrett hatte, zog ich ihn doch wieder zurück und kroch ganz bescheiden wieder in meine Damenabteilung hinein, in der noch dazu zwei schreiende Kinder saßen, die nachher fast meine ganze Schokolade aufgegessen haben. Das war aber auch alles, was ich auf der ganzen Tagesfahrt erlebte! Doch eins will ich noch bemerken: auf den Bahnhöfen, wo ich stets den Kopf zum Fenster hinausstreckte, wendeten verschiedene Leute sich nach mir um, und mein neuer Hut war ja auch sehr kleidsam zu meinen hellen, krausen Haaren.

Als mein Zug endgültig hielt und ich mit meinem Handgepäck auf den Bahnsteig hinaussprang, spähte ich natürlich sofort nach einer älteren Dame aus. Tante hatte mir nicht geschrieben, woran ich sie erkennen könnte, dagegen hatten wir ihr meinen Reiseanzug geschildert: hellkarrierter Staubmantel und dunkelrot garnierter Rundhut! Ich konnte aber eine tantenhafte und altjüngferliche Dame – halbwegs war ich sogar auf einen mitgebrachten Mops gefaßt gewesen – nirgends entdecken, wenigstens keine, die sich im mindesten um mich gekümmert hätte. Alle Reisenden stiegen aus und eilten dem Ausgang zu, und ich dachte schon, niemand wollte mich in Empfang nehmen.

Da sah ich eine hübsche, schlanke Dame eilig den Bahnsteig betreten und spähend überall umherblicken. Rasch kam sie auf mich zugeschritten, lächelte freundlich und sagte, indem sie mir prüfend ins Gesicht blickte: „Helmi Lafrenz?“

„Ja,“ sagte ich errötend, „die bin ich.“

„Dann bist du also mein erwartetes Nichtchen,“ meinte die Dame und gab mir die Hand, die meine herzlich schüttelnd; „du mußt entschuldigen, liebes Kind, ich bin unterwegs aufgehalten worden und habe mich um ein paar Minuten verspätet. Hoffentlich fühltest du dich nicht schon verlassen!“

Dann winkte sie einem Kofferträger, übergab ihm das größere Handgepäck und machte sich zu Fuß mit mir auf den Heimweg.

Also das war Tante Renate! O, wie ganz, ganz anders war sie, als ich sie mir vorgestellt hatte!

Das Wort „alte Jungfer“ wollte absolut nicht passen; sie sah wirklich nicht aus wie eine solche. Nein – nein, wirklich nicht! Tante Renate sah überhaupt nicht alt aus mit ihrer feinen, schlanken Gestalt, dem klugen, frischen, ovalen Gesichte, den modern, wenn auch ganz einfach frisierten, welligen, dunkelblonden Haaren, den klaren, blaugrauen Augen. Aeltlich gekleidet war sie ebenso wenig wie sehr jugendlich; es schien, als wenn alles, was sie anhatte, gerade so sein müßte, wie es war, und sicher mußte jeder sagen, daß das Ganze entschieden hübsch war.

Komisch, daß ich mir vorher so fest in den Kopf gesetzt hatte, sie müßte ganz anders sein! Ich wußte ja nicht, wie alt Tante war, aber Mutter zählte doch über fünfzig Jahre, und Tante sah nach meinem Dafürhalten aus, als wenn sie etwa ein- oder zweiunddreißig alt sein könnte.

„Du siehst mich so forschend an,“ sagte sie plötzlich lächelnd, „hattest du mich dir anders vorgestellt?“

„Ja, sehr!“ entgegnete ich, ein bißchen verlegen und rot werdend.

„Ja?“

„Aehnlich wie Mutter – wenigstens ähnlich so alt! Du bist ja aber noch –“ ich stockte.

Sie lächelte wieder. „Ach so, du hattest dich auf graue Haare und einen Strickbeutel gefreut, und nun bist du enttäuscht? Das thut mir wirklich leid, Helmi! Ich bin ja aber eine Stiefschwester deiner Mutter und eine ganze Reihe von Jahren jünger als sie. Uebrigens habe ich mir die Welt doch schon eine ziemliche Weile angesehen, Kleine; darüber beunruhige dich nur nicht! Erzähle mir lieber, wie es den Deinen zu Hause geht.“

Das that ich denn, und Tante fragte nach allem so lebhaft interessiert, ging auf alles, was ich erzählte, so freundlich ein, daß ich mich schon ordentlich vertraut mit ihr fühlte, als wir in ihrer Wohnung ankamen.

Hatte etwa noch der letzte Rest einer Vorstellung von einem Altjungfernstübchen in meiner Seele geschlummert, so konnte ich damit jetzt gründlich aufräumen. Tante war ganz modern und sehr hübsch eingerichtet, ganz ohne gehäkelte Schutzdecken und Korblehnstühle, ohne Daguerreotypen an den Wänden und Papierblumen in den Vasen; alles war hell und freundlich mit blühenden Gewächsen in allen Fenstern und zwanglos geordneten Möbeln,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0851.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)