Seite:Die Gartenlaube (1899) 0876.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


einem Frühschoppen am 29. Dezember anfing und mit einem Grogabend am 2. Januar beschloß, um nur ja keinen vor den Kopf zu stoßen. Während dieser Zeit war er ausnehmend weich und philosophisch gestimmt, gewiß ein Beweis, daß er über seinem eigenen nicht den „Geburtstag der Menschheit“ vergaß.

Um aber darauf zurückzukommen: daß diese Bezeichnung wirklich noch lange nicht das Dümmste war, was ein Fuchs vorbringen kann, erhellt ganz deutlich aus der Art, wie man Silvester feiert – nämlich nach Möglichkeit gerade so wie einen Geburtstag. Der mehr oder minder redlichen „Rückschau, Einschau und Umschau“, die der einzelne am Schlusse des Lebensjahres hält, entsprechen am Schluß des „bürgerlichen Jahres“ die „Rückblicke“ der Zeitungen und Zeitschriften. Auch sie dienen einem wirklichen Bedürfnis des Gewissens. Die Neuzeit hat den bewußten Anteil des einzelnen an Wohl und Weh, an Leben und Weben der Allgemeinheit in allen ihren Formen, von der Dorfgemeinde bis zum Ganzen der Menschheit, ganz unvergleichlich gesteigert. Das bleibt unbestritten, auch wenn man bereitwillig auf der anderen Seite einen recht hohen Posten von gedankenloser Neuigkeitssucht in Rechnung stellt. Denn diese Sucht gab es gerade so reichlich, als statt der Zeitungsweiber der fahrende Spielmann herumzog und seine Nachrichten von der Welt Begebenheiten in schlechten Reimen herunterorgelte. Wenn aber heutzutage z. B. die erste Nachricht von einer großen Erfindung, oder vom Tode eines hervorragenden Mannes sogleich rund um die Erde auch die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen findet, für die der Mann unmittelbar gar nichts gethan hat oder die von der Erfindung zunächst gar nichts haben, so spielt dabei eine sehr ernsthafte „Neugier“ mit. Das öffentliche Wissen oder Ahnen von der Bedeutung des einzelnen Ereignisses für die Allgemeinheit ist lebendiger geworden, und damit auch das öffentliche Gewissen. Die Allgemeinheit fängt an zu merken, daß sie ebensowenig wie der einzelne Erwachsene ein Recht hat, gedankenlos ins neue Lebensjahr hinüberzubummeln. Sie hält Zwiesprach mit ihrem Gewissen, das ja, ob mehr, ob minder vollkommen, durch die Presse zu ihr spricht, und läßt sich noch mal Gewinn und Verlust, Täuschungen und Lehren des abgelaufenen Jahres durch den Kopf gehen – am „großen Geburtstag“, wie es der einzelne an dem seinen thut oder doch thun sollte.

Wenn aber der Mensch solchermaßen Einkehr in sich gehalten, die allerbesten Vorsätze gefaßt und sich in seinen eigenen Augen moralisch veredelt hat, so erwartet er auch, daß man ihm zum neuen Lebensjahre Glück wünscht und womöglich recht viel Nettes schenkt. Die Menschheit empfindet für ihren großen Geburtstag den gleichen Wunsch und erfüllt ihn nach Möglichkeit, indem sie diesen Tag zur Würde eines allgemeinen Geschenkfestes erhebt. Darauf ist sie sogar sehr früh und überall gekommen; schon bei den antiken Völkern so gut wie bei Chinesen und Indern war die Jahreswende, was sie noch heute z. B. bei den Franzosen ist, die Zeit der allgemeinen „Gebelaune“. In der deutschen Familie hat sich diese Bedeutung, im Verfolg einer sehr schönen und wahrhaft frommen Auffassung, allmählich auf den Christabend übertragen. Außerhalb der Familie aber erwartet und erhält auch bei uns der „dienende Geist“ in allen Verkörperungen, vom Stammtischkellner bis zum Laternenanzünder, noch heute sein „Neujöhrchen“, wie man bei uns am Rhein sagt. Umgekehrt war es und ist es noch vielfach am Rhein – und auch wohl in anderen deutschen Gauen – Brauch, daß Wirte, Bäcker, Metzger, Krämer etc. zur Jahreswende ihren Kunden etwas Gutes umsonst zukommen lassen. Diese Sitte finde ich besonders sinnig, weil sie vor den Neujahrsrechnungen herwandelt wie ein milder Oktobertag vor den Novemberstürmen.

Das beliebteste Geburtstagsgeschenk – wenigstens seitens der Geber – sind bekanntlich fromme Wünsche. Sie machen sich gut, kosten kein Geld und können dennoch für den Empfänger mehr als Geldeswert haben, je nachdem er zu dem Geber steht. Sie sind auch das üblichste Geschenk am „großen Geburtstag“ – ja, es ist dies vielleicht der einzige Fall, wo alle Welt wetteifert, eher zu geben als zu nehmen und in dem Vorrang beim Geben einen Lohn zu sehen, den man dem andern „abgewinnt“. Man beschränkt sich dabei auch nicht auf den Kreis der eigenen Lieben, Freunde und Bekannten. Durchaus im Sinne eines Festes der Menschheit, beseelt von dem Schillerschen „Diesen Kuß der ganzen Welt!“, ruft man auf Gassen und aus Fenstern seinen Glückwunsch allen unbekannten und unsichtbaren Ohren zu, sobald der bedeutsame Augenblick da ist, und manchmal noch früher – es ist merkwürdig, wie verschieden, selbst innerhalb eines Hauses, die Uhren in der Silvesternacht gehen! Indes kommt am Ende nicht so viel darauf an, wenn man bedenkt, daß die deutschen Uhren ja erst seit einigen Jahren verpflichtet sind, sämtlich zugleich ihre beiden Zeiger auf der Zwölf zu vereinigen, und daß z. B. ihre belgischen Kolleginnen dasselbe erst eine knappe Stunde später thun dürfen. In Neutral-Moresnet, das Belgien und Preußen gemeinsam gehört, gelten beide Zeiten, und es hat mich dort sehr angesprochen, wie sinnig die Eingeborenen diesen Umstand benutzen: sie gehen nach der deutschen Uhr ins Wirtshaus und nach der belgischen heim, und das steht ihnen merkwürdig solid. Gleicherweise dauert dort unter Verwendung zweier Uhren verschiedener Staatsangehörigkeit der vielberufene „Augenblick“ zwischen zwei Jahren eine kleine Stunde, und man kann sich dort im leeren Zeitraum zwischen zwei Jahrhunderten verloben, was sich in der Erinnerung gewiß romantisch genug ausnehmen wird.

Wann diese Verlobung stattzufinden hätte, ob in der Silvesternacht 1900 oder 1901, darüber hat sich die Menschheit ja nachgerade genug herumgezankt. Die Mathemattk spricht für 1901, aber die schönere Rundung der Zahl für 1900. Nach meiner ketzerischen Meinung kommt am Ende auch darauf nicht viel an. Für die deutsche Welt giebt es allerdings einen ganz besonders ernsten und „großen Geburtstag“, aber der liegt noch ziemlich fern und mitten im Kalenderjahrhundert – nämlich, wenn das Jahr 1970 anhebt.

In so ferne Zeiten ist der Ausblick verwehrt und selbst das Träumen Vermessenheit. Wohl aber sollen wir heuer und alljährlich am „großen Geburtstag“ auch dem Vaterlande unsere besten Vorsätze weihen. Dann dürfen wir ihm auch zum neuen Jahre wünschen, wie es in einem der Silvestergedichte des alten Nürnberger Meistersingers Hans Folz treuherzig heißt:

„Got wol Dir geben als vil er’n,
Als der himel hat manig stern,
Und so vil gute zeit,
Als vil sandkörnlein im mere leit!“




Grünes Gras.
Eine Backfisch-Geschichte von Eva Treu (Lucy Griebel).
(Schluß.)

Am nächsten Tage machte ich mich aber doch für die Sitzung recht niedlich. Tante merkte es wohl, doch sagte sie nichts. Es geschah dann auch ganz von selbst, daß ich etwas lebhafter und entgegenkommender war als sonst, so daß ich sogar ein paarmal gebeten wurde, den Kopf ruhiger zu halten. Und als Herr Harrang, der uns auch diesmal wieder nicht zeigen wollte, was er gemalt hatte, ging, da fand ich, daß er mich wirklich in sehr deutlicher Weise ausgezeichnet hatte, obschon er natürlich wieder mehr mit Tante sprechen mußte als mit mir. Mir schien, es lag ein so eigener Ausdruck in seinen Augen, wenn er mich ansah.

Ob Tante es auch bemerkte? Mir kam es so vor. Als er fort war, sagte sie mit einem ernsthaften Lächeln: „Du bist ja so aufgeregt heute, Helmikind – warum denn?“

Ich wurde rot. „Ich? o gar nicht, Tante, kein bißchen!“ sagte ich schnell.

Tante sah mich an, als wollte sie etwas sagen, etwa: „Sei es auch lieber nicht, Kleine, das Kokettieren steht dir nicht,“ oder so etwas Aehnliches, aber sie schwieg. Tante hatte manchmal eine sehr beredte Art, zu schweigen, und in mir lehnte sich etwas gegen sie auf. Ich wußte schon selbst, was ich zu thun hatte, und brauchte keine Hofmeisterin.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0876.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2018)