Seite:Die Gartenlaube (1899) 0880.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


sie war; das Ansehen, als wenn sie es wäre, verstand sie sich ja zu geben. Hier mußte etwas geschehen.

Rasch entschlossen griff ich nach dem Gesangbuch, welches ich gestern gefunden hatte, klappte dann die Thür des Bücherschrankes geräuschvoll zu, trat ganz unbefangen durch die Portiere und rief: „O Tante!“ – dann stockte ich, als bemerkte ich Herrn Harrang erst jetzt. Ich begrüßte ihn flüchtig und fuhr dann, eifrig gegen Tante gewendet, fort:

„Tante, nein, das ist doch wohl nicht möglich! Ist dies wirklich dein Gesangbuch? Das kann doch nicht sein!“

„Warum denn nicht?“ sagte Tante erstaunt. Mein plötzliches Erscheinen beglückte sie offenbar nicht übermäßig, „du hast ja gesehen, daß ich es mit in die Kirche nahm!“

„Aber nein, Tante! Dann wärest du ja schon vor zweiundzwanzig Jahren konfirmiert! Sieh, hier steht es! Du kannst doch unmöglich siebenunddreißig Jahre alt sein! Das glaube ich nicht. Können Sie sich das denken, Herr Harrang?“

„Warum sollte ich es mir nicht denken können?“ sagte Herr Harrang ganz unbefangen. „Allerdings kommt es mir nie in den Sinn, aber ich weiß es ja; warum sollte ich es also nicht glauben? Mein verehrtes kleines Fräulein, ich kenne Ihre Tante seit vielen Jahren; wir sind zusammen ganz jung gewesen. Interessiert vielleicht auch mein Alter Sie? Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Uebrigens, wer Ihre Tante sieht, dem kommt wohl schwerlich der Gedanke, nach ihrem Taufschein zu fragen; Ihnen und mir wenigstens ist er gewiß ganz gleichgültig, nicht wahr?“ Dabei blitzten seine braunen Augen mich an, so daß ich die meinen senken mußte.

Tante Renate aber zog meinen Kopf leise zu sich nieder:

„Grünes Gras, was prahlst du so?
Jeder Halm wird endlich Stroh,“

sagte sie mit einem halben Lächeln und sah mir in die Augen. Dann küßte sie mich auf die Stirn und ließ mich los.

„Stroh!“ rief Herr Harrang, „den Ehrgeiz lassen Sie fahren, das werden Sie nie!“

Tante Renate sah ihn an und schwieg; es war ein ernsthafter, beinahe trauriger Blick. Ich nahm mein Buch und ging langsam durch die Portiere wieder dahin, woher ich gekommen war. Im anderen Zimmer stand ich still und schöpfte tief Atem. Nebenan schwiegen beide.

Ich weiß nicht, ob ich mich eigentlich schämte! Ich glaube beinahe. Wenigstens war mir furchtbar unbehaglich zu Mute. Und doch auch wieder fühlte ich fast etwas wie Erleichterung. Im Grunde war es vielleicht doch wohl ebensogut, wenn Herr Harrang mein Onkel wurde. Zweiundvierzig Jahre – und ich zählte siebzehn! Das heißt, ich würde ja auch ohnehin Nein gesagt haben. Eigentlich hatte Anneliese mir die ganze Sache nur eingeredet, und es freute mich jetzt recht, daß ich gestern in ihrer Gegenwart so unfreundlich gewesen war.

Und wenn er nun wirklich vor mir gekniet hätte, wer weiß, ob ich nicht in der Aufregung mich mit ihm verlobt hätte und nachher schauerlich unglücklich geworden wäre? Während ich dastand und mich ärgerte und schämte und doch auch beinahe freute, sah ich plötzlich wieder wie aus nebelhafter, weiter Ferne die jungen Augen, die ich in der letzten Zeit mitunter nachts gesehen hatte, wie im Traum.

Etwas wie Heimweh überkam mich auf einmal. Nach Hause wollte ich – fort!

Die beiden drinnen mochten wohl denken, ich wäre fortgegangen, denn jetzt fing Herr Harrang wieder an.

„Renate!“ – Wie sanft es klang! „Renate – Liebe! Mir lieb und teuer wie einst vor so viel Jahren! Sie und ich wissen, was vor Zeiten zwischen uns trat, wie es damals nicht sein durfte trotz allem und allem! Der Weg liegt jetzt frei und offen vor uns, wir dürfen handeln, wie wir wollen, ohne nach jemand zu fragen! Renate, wir durften nicht das miteinander sein, was die Menschen jung nennen, und doch sind wir es beide auf unsere Art auch jetzt noch. Wollen wir nicht zusammen wandern, treulich Hand in Hand, bis wir alt miteinander werden?“

„Ich bin es ja schon,“ sagte Tante Renate ganz leise; es klang, als wären Thränen in ihrer Stimme. „Ich habe es gerade in der letzten Zeit oft so schwer empfunden. Manchmal dachte ich, es wäre das Kind mit seiner frischen Jugend, was Sie hierher zöge. – Siebenunddreißig – siebenunddreißig! – Ulrich! mein Haar wird grau. Und Sie – nein, es wäre ein Glück mit Furcht und Zittern! Es könnte ein Tag kommen, an dem Sie es bereuten, und das ginge über meine Kraft! Nein, Ulrich, ich bin nicht mehr, was ich war, es ist zu spät geworden.“

Ich atmete kaum. Vergessen war mein Groll. Wie lieb war Tante Renate doch! In dem Augenblick wünschte ich nichts sehnlicher, als daß Herr Harrang nun vor ihr knien möchte. Ich hatte sie lieb! Wie hatte ich je anders gekonnt? Ganz, ganz behutsam schob ich die Portiere ein wenig auseinander und blickte durch die schmale Spalte. Ob er nun kniete?

Nein. Er neigte nur seinen Kopf – es war doch ein schöner, stolzer Kopf, trotz der zweiundvierzig Jahre, und in diesem Augenblicke war er es mehr als je – zu ihr nieder, strich sich mit der Hand über den Bart und sagte: „Sieh, da sind auch weiße Haare!“

Sie antwortete nicht. Sie legte nur leise ihre Hand auf seinen Arm, die Thränen rannen ihr langsam über das Gesicht, aber sie lächelte. Da legte er sanft den Arm um ihre Schultern.

„Du meine lang’ Geliebte – du meine Jugend!“ sagte er leise, „was quälst du dich mit Gespenstern? Sollten wir denn um der wenigen Silberfädchen willen in die alte Einsamkeit zurücksinken? Was kümmern sie uns? Und wenn dein und mein Haar schneeweiß wäre – was ginge es uns an?“ Und er bückte sich und küßte ihr sachte die Thränen von den Wimpern.

Ich aber ließ den Vorhang zusammenfallen und schlich davon. Ich war doch kein Dieb, daß ich so etwas länger hätte belauschen mögen.


Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung.

Von Geh. Med.-Rat Professor Dr. Albert Eulenburg.

Wer an sommerlichen Gebirgs- und Seeaufenthalten als stiller Beobachter seinen Mit- und Nebengästen die gebührende Aufmerksamkeit widmet, der wird aus den ihn umschwirrenden Gesprächen der Kurgäste und Sommerfrischler kaum etwas so häufig heraushören als das Wort „Nerven“, und mit dem wiederkehrenden Beisatze, daß Sprecher – oder gewöhnlich Sprecherin – zur Stärkung besagter Nerven an den betreffenden Kurplatz gekommen oder ärztlich verschickt sei. Ob der angestrebte Zweck bei der Lebensweise, die die bedauerlichen Inhaber (und Inhaberinnen) dieser stärkungsbedürftigen Nerven zu führen pflegen, in allen Fällen auch wirklich erreicht wird, darüber dürften einige gelinde Zweifel gestattet sein. An der Ernsthaftigkeit der gehegten Absicht ist dagegen selbstverständlich kein Zweifel zulässig und es könnte böswilligerweise höchstens die Frage aufgeworfen werden, ob die Nerven unserer lieben Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon von Natur so „schwach“ angelegt seien, um einer solchen periodischen „Stärkung“ so dringlich zu benötigen, oder ob dieses Schwächegefühl sich nur alljährlich um die Zeit der Sommersonnenwende und der Hundstagshitze mit einer der regelmäßigen Wiederkehr der Sternschnuppenschwärme vergleichbaren Periodicität einstellt? – Aber wenn wir diese letztere Hypothese auch als einer ernsteren Begründung entbehrend vorläufig zurückweisen, so muß der rührende Anblick so vieler männlichen und weiblichen Nervenschwäche eine andere nahe liegende Gedankenverbindung in uns wachrufen. Das „Schwache“ bedarf vor allem des Schutzes – „schwache“ Nerven wohl nicht minder als andere Organe, für deren Schwächezustände wir bereitwillig den Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit anerkennen: schwache Augen, schwache Herzen, schwache Mägen! Wie verhält es sich nun in dieser Hinsicht mit den „schwachen“ Nerven? Bedürfen sie mehr des Schutzes oder mehr der Stärkung, oder beider vereint? Und wie und in welchem Umfange lassen sich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0880.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)