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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

angepaßte körperliche, sondern ebensosehr auf das seelische Verhalten der betreffenden, als „nervös“, „neuropathisch“, „degenerativ“ oder mit ähnlichen Ausdrücken gekennzeichneten Individuen. Es fällt dem Nichtarzte in der Regel einigermaßen schwer, sich mit der – vom wissenschaftlichen Standpunkte im Grunde selbstverständlichen – Wahrheit vertraut zu machen, daß Nerven- und Seelenleben der Beobachtung als ein untrennbar zusammengehöriges Ganzes entgegentreten, das in gesunden und kranken Tagen den gleichen gemeinschaftlichen Gesetzen gehorcht und sich in seinem normalen und anomalen Verhalten wechselseitig bestimmt und beeinflußt. Es sei zum Verständnisse nur an die Thatsache erinnert, daß auf rein seelischem Wege körperliche Krankheitserscheinungen der verschiedensten Art, namentlich schwere Nervenstörungen, Krämpfe, Lähmungen u. dgl. überaus häufig entstehen, und daß umgekehrt derartige Krankheitszustände durch rein seelische Beeinflussung, wie sie u. a. in den Formen der Wachsuggestion und hypnotischen Suggestion sich vollzieht, zum Verschwinden gebracht werden.

Die bei diesen Formen nervös-seelischen Andersseins, Andersgeartetseins – ich spreche absichtlich noch nicht von eigentlichem Kranksein – zumeist hervortretende Abweichung macht sich nun in zweifacher Richtung, in abnormer Reizbarkeit und in abnormer Erschöpfbarkeit aller oder nur einzelner Abschnitte des Nervensystems, vorzugsweise bemerkbar.

Die abnorm gesteigerte Reizbarkeit, die Ueberempfindlichkeit, Hypersensitivität solcher Individuen bekundet sich darin, daß körperliche und seelische Reize, die für gewöhnlich die Schwelle des Bewußtseins nicht merklich überschreiten, schon mehr oder weniger stark empfunden, und zwar in der Regel ihrem Gefühlswerte nach als unlusterregend, schmerzerregend empfunden werden – und daß überhaupt die einwirkenden Reize Gegenwirkungen von abnormer Stärke, Ausbreitnng und Dauer, daher meist mit dem Charakter der Schmerzhaftigkeit auslösen. Das gilt, wie gesagt, auf körperlichem sowohl wie auf seelischem Gebiete; für rein sinnliche Wahrnehmungen und Eindrücke, wie für Affekte und Willensmotive. Dinge, die der „Gesunde“ kaum beachtet, mit denen er jedenfalls leicht und spielend fertig wird, können bei dem in solcher Weise anomal Veranlagten schon zur Quelle schwerster und anhaltender Erregungen, gewaltsam eindringender Vorstellungen und motorischer Entladungen werden. Körperlich betrachtet sind das die Leute von so verfeinerter und „differenzierter“ Empfindung, daß ihnen eine Farbe Zuneigung oder Abscheu einflößt, daß sie Töne sehen oder auch schmecken und riechen; die Leute, bei denen wir Erröten und Erblassen, Schwäche- und Ohnmachtanwandlungen, Zittern, Krämpfe, Ernährungs- und Absonderungsstörungen der verschiedensten Art auf kaum bemerkbaren äußeren Anlaß – ja, wie es dem Fernstehenden däucht, oft ganz ohne Anlaß, spontan, eintreten sehen. Seelisch betrachtet sind es die „Minderwertigen“, die „problematischen Naturen“, denen alles schwer wird, die überall Hindernisse sehen und finden, denen jeder Maulwurfshügel ein unübersteiglicher Berg ist; die Naturen, denen Gleichmut, Ruhe, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung unbekannte und ewig fremde Dinge sind, die weder selbst leiden noch andere leiden sehen können, die über die Fliege an der Wand außer sich geraten und durch die Mücken- und Nadelstiche des alltäglichen Lebens bis zur Besinnungslosigkeit, bis zu blinder Wut, bis zu Selbstmordanwandlungen nicht selten heimgesucht werden.

Ich darf das Bild hier nur andeuten, nicht weiter ausführen; jeder wird sich aus eigener Erfahrung leicht dahingehörige, ergänzende Züge selbst Herbeitragen können. Die Kehrseite der geschilderten übermäßigen Reizbarkeit ist nun die abnorme Erschöpfbarkeit, die auf die gesteigerte Erregung und den damit verbundenen Kraftverbrauch rasch folgende Ermüdung und Abspannung, die sich in jähem Abfalle bis zu völliger Leistungsunfähigkeit auf dem körperlichen sowohl wie auf dem seelischen Arbeitsgebiete gleichermaßen bekundet. Das Leistungsvermögen solcher Individuen ist daher im ganzen genommen stets bedeutend unter der Norm, da sie wohl durch die gesteigerten Erregungen zu kurzer Energieäußerung aufgestachelt werden, sehr bald aber nachlassen und erschlaffen oder in völlige Passivität und Abstumpfung verfallen. Alle Ziele, deren Erreichung nicht bloß eine flüchtige Kraftanstrengung, sondern Zähigkeit und Ausdauer, stetiges und zielbewußtes Wollen und Handeln erheischt, sind für Naturen dieser Art schlechterdings unerreichbar; und aus der mit ihrer Eigenart zusammenhängenden Arbeits- und Berufsuntüchtigkeit ergeben sich für ihre gesamte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz oft verhängnisvolle Folgen! Und wenn ein gnädiges Geschick sie von vornherein weich genug bettet, um ihnen solche Kraftproben zu ersparen, so sind es – in Palästen und Bürgerhäusern – die aus der rauhen Wirklichkeit flüchtenden einsamen Träumer und Gefühlsschwelger, die phantastischen Schwächlinge und perversen Genußlinge, die „müden Seelen“, Aestheten und Mystiker – Typen, wie sie uns eminent moderne Autoren, ein Huysmans, Barres, Maeterlink, ein Arne Garborg und Strindberg, ein Gabriele d’Annunzio und andere mit Meisterschaft schildern.

Die Kombinatton dieser beiden sich gegenseitig bedingenden Erscheinungsreihen, der gesteigerten Sensitivität und der Schwäche, ist es nun eben, die dem nervös-seelischen Verhalten derartiger Individuen sein charakteristisches Gepräge verleiht, und die wir in ihren höheren Graden als reizbare Schwäche, auch wohl mit einseitig gefärbtem Ausdruck als Nervenschwäche (Neurasthenie), als nervöse Erschöpfung etc. bezeichnen. Diese nervösen Schwächezustände, zumeist angeboren, häufig ererbt, fallen nicht unbedingt unter den Begriff der Krankheit im engeren und eigentlichen Sinne, sondern halten sich in ihren leichteren Formen vielfach auf der einer genauen Abmessung schwer zugänglichen Uebergangsbreite zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie können freilich in jedem einzelnen Falle zu ausgesprochener Krankheit werden, wie ja auch sonst die angeborene Konstitutionsschwäche leicht zu wirklicher Erkrankung hinüberleitet. Ob dies bei der nervösen Konstitutionsschwäche geschieht oder nicht, das hängt einerseits von der Schwere der angeborenen und ererbten Veranlagung ab, andererseits von den mehr oder weniger begünstigenden Einflüssen von Umgebung, Erziehung, Lebenslage, Beruf – von dem ganzen Milieu, worin sich die betreffenden Individuen von früh auf bewegen, und wodurch auch im Einzelfalle die besondere Form und Richtung der sich entwickelnden krankhaften Störung in maßgebender Weise bestimmt wird. Aus der verwirrenden Fülle und Mannigfaltigkeit der individuellen Krankheitsbilder hat man seit längerer Zeit der erleichterten Uebersicht halber gewisse Haupttypen dieser nervösen Schwächezustände herausgegriffen, zu denen, wenn wir von den schwereren Formen funktioneller Seelenstörung absehen, ganz besonders die als Neurasthenie im engeren Sinne, als Hypochondrie und als Hysterie bezeichneten Krankheitsbilder gehören. Indessen dürfen wir niemals vergessen, daß der einzelne Kranke ein in dieser Art nur einmal vorhandenes krankes Individuum, daß er ein leidendes Ich – und nicht der zufällige Träger einer theoretisch ausgeklügelten, schematischen und schattenhaften Krankheitsabstraktion ist. Die lange mit überängstlicher Sorgfalt abgezirkelten und gehüteten Grenzen zwischen den verschiedenen nervös-seelischen Anomalien beginnen sich bei fortschreitender Einsicht und Erfahrung mehr und mehr zu verwischen, da alle diese krankhaften Zustände auf der gleichen, eben geschilderten Grundlage beruhen und ihre Verschiedenheit mehr in zufälligen, durch die äußeren Umstände und Gelegenheilsanlässe oder durch die besonderen Einflüsse von Geschlecht, Alter etc. bedingten Abänderungen wurzelt. So ist, um nur bei den drei obigen Haupttypen zu bleiben, die „Neurasthenie“ im engeren Sinne durch das Vorherrschen mannigfaltiger, ohne ersichtlichen Grund eintretender, quälender Angstempfindungen und Angstvorstellungen als sogenannte „Angstneurose“ vielfach gekennzeichnet, während es sich bei der reinen Hypochondrie um eine besondere Form dieser Angstvorstellungen, um eine zumeist aus krankhaften Organempfindungen entspringende, aber allerdings ihrer Schwere nach zu diesen außer allem Verhältnisse stehende Krankheitsfurcht (Nosophobie) und daraus hervorgehende Gemütsverstimmung handelt. Bei der Hysterie endlich haben wir es mit einer in dieser Besonderheit vorwiegend dem weiblichen Geschlechte eigenen Form krankhafter Nerven- und Seelenstörung zu thun, wobei übrigens die Disposition nicht, wie man von alters her irrtümlicherweise gemeint hat, in den organischen Geschlechtscharakteren, vielmehr in der besonderen seelisch-geistigen Veranlagung und Entwicklung des Weibes, in der Eigenart seines Nerven- und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0883.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2018)