Seite:Die Gartenlaube (1899) 0884.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Gemütslebens offenbar in weit höherem Grade zu suchen sein dürfte. Knüpfen wir also an die beiden gemeinschaftlichen Hauptmerkmale aller dieser nervösen Schwächezustände – die krankhaft gesteigerte Reizbarkeit und die abnorme Erschöpfbarkeit – an, so lassen sich daraus die allgemeinen Grundgedanken, die für die Behandlung dieser Zustände im Sinne des Nervenschutzes und der Nervenstärkung maßgebend sein müssen, ohne Schwierigkeit herleiten. Krankhaft reizbare, „überreizte“, „überempfindliche“ Nerven bedürfen als solche des „Schutzes“ in Form der schonenden Fernhaltung von schädigenden Reizen: der Passivität, der Ruhe. Schwache, krankhaft ermüdbare und erschöpfbare Nerven andererseits bedürfen in entsprechendem Grade der „Stärkung“, durch methodische Zuführung geeigneter Reizerregungen, d. h. durch Uebung, durch vorsichtig gewählte, den individuellen Verhältnissen sich anpassende Beschäftigung, mit einem Worte durch Thätigkeit. Ruhe und Thätigkeit – darin haben wir die beiden Pole des gesunden und kranken Nervenlebens und die unverrückbaren Grundpfeiler einer jeden, den mannigfachen Störungsformen dieses zarten Mikrokosmos gerecht werdenden, rationellen Behandlung. Ruhe und Thätigkeit – das scheinen auf den ersten Blick freilich Gegensätze zu sein, die sich wechselseitig ausschließen; in Wahrheit liegen darin aber nur zwei für jede Art organischer Funktion gleich wichtige Prinzipien, die sich gegenseitig ergänzen und fordern. Wie die schwachen, stärkungsbedürftigen Organe in der Regel zugleich auch die krankhaft reizbaren, schutzbedürftigen sind, so ist auch das Bedürfnis der methodischen Anwendung von Ruhe und Thätigkeit bei krankhaften Organstörungen meist gleichzeitig gegeben, und es kann sich nur darum handeln, beiden Forderungen in geeignetem Umfange, in der richtigen Auswahl und Kombination, in dem richtigen Mischungsverhältnisse verständnisvoll zu genügen. Nach dieser Richtung hin ist freilich oft genug gesündigt worden, indem unter der Herrschaft einseitiger Theorien und wechselnder Modeströmungen zeitweise bald das Prinzip der Ruhe und Schonung, bald das der kräftigenden Uebung und Thätigkeit in unstatthafter Uebertreibung zur Herrschaft gelangte. Wir haben das ja u. a. bei den Herzkranken erlebt, als vor ungefähr fünfzehn Jahren die sogenannten Terrainkuren aufkamen, und diese Kranken, die man bis dahin aufs peinlichste geschont und als noli me tangere betrachtet hatte, nun auf einmal turnen, marschieren, bergsteigen, später radfahren sollten, und es ja auch wirklich thaten, bis dann doch gegen die zu weit gehende Ueberspannung dieser Richtung der natürliche Rückschlag sich allmählich geltend machte und uns mit der Zeit auf einen gesunden Mittelweg der Behandlung zurückführte. Aehnliche Einseitigkeiten machen sich auch auf dem Gebiete der nervös-seelischen Störungen hin und wieder deutlich bemerkbar. Während man lange genug das Schutz- und Pflegebedürfnis, das Prinzip der Ruhe in allzuängstlicher Weise übertrieb, den Kranken vor jedem Luftzuge des Lebens, jedem Wellenschlage anregender und erfrischender Thätigkeit fast hermetisch abzusperren beflissen war – möchte man dann wieder einmal, mit der unserer Zeit überhaupt eigenen Launenhaftigkeit und sprunghaften Veränderlichkeit, die Sache plötzlich beim ganz entgegengesetzten Ende anfassen. Da kommt der und jener Modeheilkünstler und läßt die Insassen seiner Anstalt im Schweiße ihres Angesichts Holz sägen und klein machen und es mit noch größerem Schweißverluste die Treppen hinauf- und wieder herabschleppen; der andere sucht sie mit Garten- und Feldarbeit in mehr idyllischer Art zu beschäftigen; der dritte verweist sie auf das von der Mode sanktionierte Gebiet sportlicher Künste, wobei freilich auch manche Verkehrtheit mit unterläuft und die gedanken- und kritiklose Nachtreterei oft mehr Unheil als Nutzen anstiftet. Natürlich giebt es unter Aerzten und Nichtärzten passionierte Ruhe- und Bewegungsfreunde, ja Ruhe- und Bewegungsfanatiker – und der selten völlig ausgeglichene und überbrückte Gegensatz dieser beiden Strömungen macht sich dem Besucher der von Nervenkranken bevölkerten Kuranstalten öfters in recht drastischer Weise bemerkbar. Noch auf meiner vorjährigen Sommerreise in der Schweiz hatte ich Gelegenheit, zwei diese beiden Richtungen recht lebhaft veranschaulichende Bilder unmittelbar hintereinander in mich aufzunehmen. In einer übrigens bekannten und altrenommierten Anstalt war man eben mit der Errichtung geräumiger Liegehallen beschäftigt, die, mit den einzelnen Krankenzimmern in Verbindung stehend, deren Bewohnern Gelegenheit bieten sollten, sich auf den eigens dazu verschriebenen bequemen Triumphstühlen malerisch hingelagert dem ungetrübtesten dolce far niente im Anblick und Genusse des großartigsten der Schweizer Seeen kurmäßig zu überlassen. Also, wenn man will, eine Art von Ruhe- oder Liegekur, da ja doch heutzutage alles, um zu imponieren, den Namen einer „Kur“ tragen und mit diesem Zeichen gestempelt sein muß. – Ein ganz anders geartetes Bild trat mir am nächsten Tage entgegen. Da besuchte ich die seit wenigen Jahren errichtete Anstalt des Herrn Grohmann in Hirlanden (einer Vorstadt von Zürich), die eine kleine Anzahl meist jugendlicher Nervenkranker als Pensionäre beherbergt, um sogenannte „Arbeitskuren“ oder „Beschäftigungskuren“ bei ihnen anzuwenden. Die Kranken werden zu dem Zwecke mit verschiedenen mechanischen Arbeiten, namentlich mit gröberer und feinerer Tischlerei, und mit typographischen Arbeiten, wie Zeichnen und Modellieren, hier und da auch mit Gartenarbeiten in einer den individuellen Neigungen und Befähigungen möglichst angepaßten Weise unter der fortwährenden Aufsicht des Anstaltleiters planmäßig beschäftigt – ein Verfahren, wodurch in geeigneten Fällen schon recht erfreuliche Resultate erzielt wurden. Es liegt mir völlig fern, gegen die relative Berechtigung der einen wie der anderen Methode irgendwelchen Einwand zu erheben. Beide können und werden, an richtiger Stelle angewandt und in richtiger Weise gehandhabt, unzweifelhaft nützlich wirken; beide werden aber auch bei verkehrter Auswahl der Fälle und unzweckmäßiger, den Einzelverhältnissen nicht genügend angepaßter Durchführung leicht Schaden stiften. Aufgabe des denkenden Arztes muß es eben sein, das dem Einzelfalle Angemessene herauszufinden und ohne jede Voreingenommenheit für oder wider, vor allem ohne jede Schablonisierungssucht die Auswahl zu treffen. Sache des Kranken sollte es dann freilich auch sein, dem erkorenen Arzte das zu erfolgreicher Einwirkung unentbehrliche Vertrauen entgegenzubringen und zu bewahren, und sich seinen Anordnungen, auch wo sie dem eigenen Verständnisse entrückt sind oder mit den eigenen Neigungen und Liebhabereien in Kollision geraten, widerspruchslos zu fügen! Nach dieser Seite hin erfahren wir leider nur zu oft schmerzliche Enttäuschung.




Nachdem wir in dem ersten Teil unserer Ausführungen einen flüchtigen Blick auf die aus der Natur der nervösen Schwächezustände sich ergebenden Behandlungsprinzipien geworfen haben, wollen wir nun der noch ungleich wichtigeren Frage uns zuwenden, was zur Verhütung derartiger Erkrankungen bei nervös veranlagten Individuen zu thun und zu lassen ist. Denn der wirksamste Nervenschutz und zugleich die wirksamste Art der Nervenstärkung bewährt sich in vorbeugender Richtung, in einer von früh auf nach hygieinischen Grundsätzen geregelten Nervenpflege und Nervendiätetik. Freilich „von früh auf“ – in frühester Kindheit muß damit begonnen werden und das oft schwierige Werk durch alle Klippen des Jugendlebens, durch die gefährlichen Krisen der Pubertätsentwicklung und darüber hinaus fortgeführt werden.

Ich muß mich der überwältigenden Fülle des Stoffes gegenüber natürlich auch hier mit flüchtigen Andeutungen begnügen. Ganz allgemein gesprochen dient und wirkt im Sinne einer vernünftigen Nervenpflege alles, was die harmonische Entwicklung des Organismus in allen seinen Teilen begünstigt und fördert. Eine gute Ernährung des Nervensystems und seiner Centralorgane, vor allem des Gehirns, durch reichliche Zufuhr normal beschaffenen Blutes bildet für Aufbau, Stoffersatz und richtige Funktion der Nervensubstanz die erste und wesentliche Bedingung. Um eine solche zu schaffen und zu unterhalten, dazu bedarf es unter anderem einer gesunden und reichlichen, aber alles Ueberflüssige und Aufreizende verschmähenden Nahrung, einer auf Entwicklung der Muskulatur, vor allem der Herz- und Atmungsthätigkeit Bedacht nehmenden systematischen Uebung, einer den Bedürfnissen des heranwachsenden Organismus angepaßten Kleidung, reichlichen und rechtzeitigen Schlafes, angemessenen Wechsels von körperlicher und geistiger Arbeit, von Arbeit und Erholung. Selbstverständlich ergänzen sich diese

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 884. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0884.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2018)