Seite:Die Gartenlaube (1899) 0895.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

schmutzigen Gemach; allmählich erkrankte er, wurde schlaff und matt; es zeigten sich Geschwülste an den Beinen. Nach sechs Monaten öffnete sich zum ersten Male die schwere Kerkerthüre, als General Barras mit einigen Konventsmitgliedern den Prinzen besuchte. Der klägliche Zustand desselben flößte ihm Mitleid ein; er erteilte Befehl, daß der Kleine morgens und abends im Garten des Temple spazieren gehen solle, daß man ihm einen Krankenpfleger zur Seite stelle, und vertraute einem Kreolen, Laurent, seine Bewachung an. Später wurde ihm der Bürger Garien an die Seite gestellt – beide waren von milder Sinnesart. Doch das Befinden des Prinzen verschlimmerte sich immer mehr. Der Konvent entsandte drei seiner Mitglieder, die über den Zustand desselben Bericht erstatten sollten. Einer von ihnen war Garmond, der am 14. Juni 1795 bei dem Tode des jungen Capet zugegen war. Vorher wurden zwei berühmte Aerzte zu ihm geschickt; der eine, Desault, kam mehrere Male, erkrankte dann aber und starb noch vor dem Prinzen; der andere, Pelletan, konnte nichts mehr zur Rettung desselben thun. Zwei Tage nach dem Tode fand die Sektion der Leiche statt; sie wurde am Kirchhof zu Sainte-Marguerite in der gemeinschaftlichen Grube begraben.

Das ist die Darstellung der düsteren Vorgänge, wie sie in die meisten Geschichtswerke übergegangen ist. Daneben aber erhielt sich bis auf den heutigen Tag eine Ueberlieferung, welche hinter diese Schilderungen kritische Fragezeichen macht und den Beweis zu liefern sucht, daß der junge Capet nicht im Temple gestorben, sondern aus ihm entkommen ist. Daß das verstorbene Kind nicht der Dauphin gewesen sei, war nach der Mitteilung mehrerer Angehörigen des Arztes Desault die Ueberzeugung desselben; daß dieser bald darauf starb, führte zu dem Glauben, der Konvent habe ihn vergiften lassen. Das Sektionsprotokoll der vier Aerzte spricht nur von dem Leichnam eines Kindes, von dem die Kommissare ihm gesagt hätten, es sei der Sohn des verstorbenen Ludwig Capet. Das hat selbst Napoleon I befremdet, der sich dies Protokoll geben ließ. Bis dahin hielt er die Flucht des Dauphins aus dem Temple für Weiberklatsch, auch das, was ihm seine Gattin Josephine erzählte, die selbst als Mithelferin bei der Flucht im Geheimnis gewesen sein wollte. Auch heißt es in dem Protokoll der Aerzte, die Krankheitszeichen seien ohne Frage die Wirkung eines skrofulösen Leidens, welches seit langer Zeit bestand; schon diese Worte mußten nach der Ansicht eines späteren Arztes für immer die Ansicht beseitigen, es handle sich um Ludwig XVII. Um die Anlage zu Skrofeln bei einem gesunden Kinde zu erwerben oder bis zu tödlichem Ausgang zu entwickeln, sei die Zeit zu kurz gewesen. Ebenso empfängt man den Eindruck, daß es sich um ein taubstummes Kind gehandelt habe. Der wirkliche Dauphin schwieg allerdings oft lange aus Trotz und Eigensinn, brach jedoch, bei milder, freundlicher Anrede, sein Schweigen; der vermeintliche Dauphin sprach aber nie ein Wort. Die Nachricht von dem Tode desselben, doch jedenfalls ein epochemachendes Ereignis, wurde vom Konvent sehr kühl aufgenommen, zu einer Zeit, wo die Bretagne und die Vendée für den Dauphin in den Waffen standen; der Totenschein wurde erst vier Tage nachher ausgestellt. Die Herzogin von Angoulême, die Schwester des Prinzen, die im Temple noch weilte, wurde nicht zur Leichenschau zugezogen; die Aussagen der letzten Wächter widersprachen sich; sie kannten den Prinzen von früher nur aus dunkler Erinnerung, jetzt war er durch die Krankheit entstellt. Auch die Begräbnisstätte auf dem Kirchhof von Sainte-Marguerite wurde verschieden angegeben; bei den Ausgrabungen fand man nämlich einen leeren Sarg. Ludwig XVIII wollte in Saint-Denis für Ludwig XVII ein Hochamt halten lassen; doch als schon die Basilika dazu geschmückt war, weigerte sich der Klerus: er könne Totenfeierlichkeiten nur für die Fürsten veranstalten, die in der Kirche selbst begraben seien: zweifelte er am Tode Ludwig XVII?

So viel Unerklärtes, so viel Widerspruchsvolles ist in allen diesen Vorgängen, daß man sich nicht wundern darf, wenn in der Folge jene Prätendenten auftauchten, die sich für den Erben Ludwigs XVI ausgaben, über welche die „Gartenlaube“ schon früher des näheren berichtet hat.


Blätter und Blüten.

Der Anfang des Jahrhunderts. Die Frage, wann ein neues Jahrhundert beginnt, hat seit alten Zeiten Anlaß zu Streitigkeiten gegeben. Dennoch führt die chronographisch-rechnerische Entscheidung der Frage unzweiselhaft zu dem Schluß, daß das Jahr 1900 das letzte des 19. Jahrhunderts ist und erst am 1. Januar 1901 streng genommen das 20. Jahrhundert beginnt. Am 1. Januar 1900 würde das neue Jahrhundert wirklich anfangen, wenn unsere Zeitrechnung mit einem Jahre 0 beginnen würde, wenn es also hieße, Christus sei im Jahre 0 geboren. Die christliche Zeitrechnung kennt aber kein Jahr 0. Dieselbe wurde im 6. Jahrhundert u. Chr. von dem Abte Dionysius Exiguus eingeführt, indem er den Anfang seiner Zeitrechnung oder die Epoche der christlichen Aera auf den 1. Januar festsetzte und als das erste Jahr dasjenige bezeichnete, in welches nach seiner Berechnung die Geburt Christi fiel. Die Kirche nahm die von Dionysius Exiguus aufgestellte Aera bald an. Karl der Große war der erste Fürst, der sich ihrer in Urkunden bediente. Von da ab verbreitete sie sich in Europa und wurde bei allen abendländischen Völkern gebräuchlich.

Trotz dieser Thatsachen regt sich in unseren Tagen das allgemeine Bedürfnis, bereits beim Schlüsse des letzten Jahres, dessen Zahl mit 18 anhob, die bevorstehende Jahrhundertwende zu feiern. Am 1. Januar 1900 erscheint die Zahl des kommenden Jahrhunderts zum erstenmal im Kalender: das teilt sich dem Volksbewußtsein unabweisbar mit als der Beginn einer neuen Aera! Wie sich dieser Zwiespalt am besten lösen läßt, dafür haben vor hundert Jahren unsere großen Dichter Schiller und Goethe ein klassisches Beispiel gegeben. Als im Jahr 1799 in Weimar die Frage strittig wurde, wann das 18. Jahrhundert zu Ende gehe, folgten beide Dichter dem natürlichen Gefühl und traten auf die Seite derer, die das Ende auf den Silvester 1799 setzten. Der Abend des letzten Dezembers 1799 sah die beiden Dichter in Weimar festlich vereinigt. Am Neujahrsmorgen 1800 schrieb Goethe an Schiller: „Ich war im stillen herzlich erfreut, gestern abend mit Ihnen das Jahr und, da wir einmal Neunundneunziger sind, auch das Jahrhundert zu schließen.“ Und Schiller gratulierte: „Ich begrüße Sie zum neuen Jahr und neuen Seculum!“ Das hinderte aber beide Dichter am Schlusse des Jahres nicht, für den 1. Januar 1801 Festlichkeiten vorzubereiten, welche der Begrüßung des neuen Jahrhunderts galten. Aehnlich werden es viele unserer Leser am Schlusse dieses Jahres wie am Schlusse des nächsten halten. Ein neues Jahrhundert ist etwas so Großes, daß eine doppelte Begrüßung wohl am Platz ist. Und schaden kann es gewiß nichts, daß schon jetzt die ernsten Betrachtungen unser Leben befruchten, zu welchen der Rückblick auf das zur Rüste gehende, der Ausblick auf das nahende Jahrhundert veranlaßt. Darum begrüßt auch die „Gartenlaube“ heute mit herzlichen Wünschen ihre Leser nicht nur zum neuen Jahr, sondern auch zur Jahrhundertwende, welche dem ganzen nächsten Jahr seinen Charakter geben wird!


Der Kleine Teich im Riesengebirge. (Zu dem Bilde S. 881.) Das Riesengebirge steigt auf seiner nördlichen, Schlesien zugehörigen Seite als eine ziemlich steile Wand mit leicht geschwungener wellenförmiger Umrißlinie aus dem weiten, teilweise flachen Hirschberger Thalkessel auf. Die Böschung dieser Wand hat auf 8 bis 9 km Breite etwa 1000 bis 1250 m Höhe. Aber nur bei dämmriger Hochsommerluft erscheint sie flach und ungegliedert; bei durchsichtiger Atmosphäre und seitlicher Stellung der Sonne, also am Morgen und Abend, belebt sie sich mit einer reichen Plastik; da springt aus dem Rückgrat des Hauptkammes eine Menge von Bergrippen hervor, die tiefeingeschnittene Thäler zwischen sich fassen, worin sich die beliebten Sommerfrischen angesiedelt haben.

Aber diese Thäler reichen doch nur bis zu einer gewissen Höhe hinauf und die letzte, steilste Erhebung des Gebirgsmassivs würde ziemlich eintönig erscheinen, wenn hier oben nicht eine ganz merkwürdige Bildung von cirkusartigen grotesken Felsmulden sich geltend machte, die das Riesengebirge vor andern deutschen Mittelgebirgen voraus hat. Man nennt diese schroffen Kessel, die Wiegen vorhistorischer Gletscher, „Gruben“ und betrachtet als die hervorragendsten derselben die beiden Schneegruben im westlichen Flügel des Gebirges. Doch die Natur, welche das Riesengebirge mit einer wunderbaren Symmetrie aufgebaut hat, verlieh auch seinem östlichen Flügel ganz ähnliche Schaustücke in den beiden „Teichen“, hochgelegenen Seen, die, in kolossalen Nischen eingebettet, nur durch einen vorspringenden Felsengrat voneinander unterschieden sind.

Gerade der kleinere Teich, den uns heute der Holzschnitt nach dem großen Oelbilde des Malers P. Linke in Breslau vorführt, hat die großartigere Umgebung; seine Nische gräbt sich etwa 2 km weit in den Steinkörper des Hauptkammes ein, und seine Oberfläche liegt 220 m tiefer als der obere Rand seines Felsenrahmens.

Wenn man da oben auf glattem Kiesweg das ausgedehnte nur mit Gras und Knieholz bedeckte Hochplateau (1400 m Seehöhe) durchschreitet, das nur von den Gipfeln der Schneekoppe und des Brunnenberges überragt wird und kaum einen Blick auf den fernen, verschwimmenden Horizont gestattet, macht es einen überraschenden Eindruck, wenn uns der Weg plötzlich an jenen oberen Rand der Felsennische führt und wir nun mit einem Male aus der Tiefe den blauen Bergsee und seine turmgeschmückte Holzbaude heraufschimmern sehen.

Und reißt der Blick sich von der schillernden Wasserfläche los, so fällt er auf emporstarrende turmartige Felsen, aus deren Ritzen im Frühling das rote Habmichlieb (Primula minima) und der weiße Teufelsbart (Anemone alpina) sprossen, er gleitet über die unzähligen Rinnsale, welche dazwischen das schäumende Naß hinabführen in den ungeheuren Trichter, er folgt dem mäandrisch geschlängelten Bach, der sich aus dem Seebecken, einen Moränenwall durchbrechend, losringt und dann in dem unermeßlichen Nadelwalde der Vorberge verschwindet, er durchspäht das Thal mit seinen Dörfern und Städten, Kirchen, Burgen und Straßen und ruht dann endlich aus auf der weiten schlesischen Ebene, die mit dem Himmel in einem grauen Dunststreifen sich vermählt.

Aber noch schöner vielleicht ist es, das großartige Schaustück der Natur von unten zu genießen, und wir möchten jedem, der nach der Schneekoppe aufsteigen will, raten, unter den vielen Wegen denjenigen zu wählen, der durch das Felsenthal des Kleinen Teiches führt. In

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 895. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0895.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2018)