Verschiedene: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jahrgang, Band 1 | |
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Man würde das Verdienst eines Künstlers unrichtig beurtheilen, wenn
man es allein nach seinen Werken bemessen wollte, ohne auf die Umstände
Acht zu haben, unter denen er gelebt hat, ohne den Zweck, den er vor
Augen hatte, und den Geschmack seiner Zeit zu berücksichtigen. Der Maler, der Tonkünstler, alle die bevorzugten Geister, welchen die Vorsehung,
als sie das Licht der Welt erblickten, die unschätzbare Gabe der Erfindung
verlieh, können von ihren Nachahmern erreicht, ja selbst übertroffen werden, durch eine größere Vollendung ihrer Arbeiten, durch kühne und glückliche Benutzung der Kunstmittel; immer aber bleibt ihnen jener höhere Ruhm,
welcher nur dem schöpferischen Talente zukommt. Mit Unrecht haben die
enthusiastischen Anhänger einiger neuen Schule, in den jüngsten Zeiten sich
gegen David erklärt. Der Grund weshalb wir David über die
unmittelbar nach ihm folgenden Maler stellen müssen, ist kein anderer, als daß er der französischen Schule aus der Ausartung, in die der
schlechte Geschmack der Zeiten sie geworfen, wieder emporgeholfen, daß er
sie, durch eine gründliche Umwandlung, auf eine gedeihliche Bahn gebracht
hat. Wie viele Componisten sind nicht in Rossini’s Fußtapfen getreten,
wie viele haben sich nicht des neuen Verfahrens bedient, womit er die Kunst
bereichert hatte, und die Ideen sich anzueignen gestrebt, für die er den Ton
angegeben! Durch die Fülle seiner Einbildungskraft, durch den Reichthum
an Gedanken, worin er fast seines Gleichen nicht hat, steht Rossini bei
Weitem höher als seine Nachahmer; nichtsdestoweniger finden sich unter den
Werken derselben einige, die großes Glück gemacht haben würden, wenn
man es hätte vergessen können, daß sie Erzeugnisse der Nachahmung sind.
Verschiedene: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jahrgang, Band 1. Herbig, Leipzig 1841, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grenzboten_1-1841.pdf/298&oldid=- (Version vom 31.7.2018)