verschiedene: Die Grenzboten, 1. Jahrgang | |
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Es ist zu begreifen, daß das Genie unbekannt bleiben könne; die Umstände können ihm zuwider sein, aber daß es unverstanden bleibe? nein! „Unverstandenes Genie?“ Entdeckung der eiteln Mittelmäßigkeit! „Wiedereinsetzung des unverstandenen Genies?“ paradoxe Phrase, entstanden aus dem Bedürfniß, etwas Besonderes zu sagen. Ohne Zweifel hebt die Nachwelt manchmal die Beschlüsse eines Jahrhunderts auf, und verbrennt was dieses vergötterte, aber das, was die Nachwelt bewundert, konnte nicht in einer Epoche entstehen, wo der Kern der Gesellschaft keinen Begriff davon gehabt hätte. Deßhalb genügt ein Werk des Genies, um die Bildung seiner Zeit nachzuweisen; der Ausdruck setzt die Idee voraus. Camoens verschmachtete unbekannt in einer Garnison China’s. Wer hätte auch errathen wollen, welches Meisterwerk bald die Hand des Schiffbrüchigen über die Fluthen erheben würde? Aber kaum ist die Lusiade veröffentlicht, so erklärt ihn ganz Portugal für den König seiner Dichter. Ganz England klatscht Shakspeare bei seinem Leben Beifall; die entferntesten Provinzen Frankreichs rufen, wenn etwas Außerordentliches sich ihren Augen darstellt, aus: Das ist schön wie der Cid! Tasso wird auf dem Capitole gekrönt; in den Abruzzen werfen sich die Räuber bei dem Namen Ariosto’s nieder; und Göthe, „der Zukunftsdichter,“ hatte wahrlich über seine Mitwelt nicht zu klagen, wie auch die Hypochondrie eines Riemer’s darüber stöhnen und ächzen mag.
Fassen wir in Kurzem das Endziel dieser Betrachtung, so gelangen wir zu dem Schluß, daß der Zustand der Gesellschaft in einem weit innigern Zusammenhang mit der Idee des Schriftstellers steht, als man im gewöhnlichen Leben anzunehmen geneigt ist. Mag immerhin die Kritik sich damit beschäftigen, wie weit diese oder jene geistige Production der Wahrheit näher gerückt ist, und wie sich von ihr entfernt hat, mag sie, das Endziel der geistigen Aufgabe im Auge haltend, ihre Blicke stets vorwärts richten; wir wollen die Mühe übernehmen, von Zeit zu Zeit uns umzusehen, in wie weit die Gesellschaft, der allgemeine Geist der Zeit, die literarischen Bestrebungen begleitet oder dahin fahren läßt. Wir wollen die Zeit aus der Idee und die Idee aus der Zeit zu erkennen trachten. Vielleicht rücken wir dadurch etwas näher dem Verständniß der Gegenwart.
A. Baron, |
Professor der Literaturgeschichte an der freien Universität zu Brüssel. |
verschiedene: Die Grenzboten, 1. Jahrgang. Herbig, Leipzig 1841, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grenzboten_1-1841.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)