Als der Inhaber dieser Firma sich vor nunmehr einem Vierteljahrhundert – am 3. Oktober 1866 – in Wurzen etablierte, ahnte niemand, welch umfangreiches und bedeutendes Etablissement sich aus dieser schlichten Seilerwerkstatt entwickeln würde. Der junge Anfänger, Herr A. W. Kaniß, dem nur ein einziger Geselle zur Seite stand, gehörte nicht zu den Glücklichen, denen entsprechendes Kapital den Anfang erleichtert, und hierzu gesellte sich bald noch die schmerzliche Enttäuschung, daß am Orte selbst seine Waren keine Abnehmer fanden. Indes dieser Mißerfolg war sein Glück, denn er veranlaßte ihn, sich seine Kundschaft auswärts zu suchen und somit die ersten Schritte zu thun, sich jenes große Absatzgebiet zu sichern, das die Firma heute besitzt. Sehr bald erlangten die Artikel des Wurzener Seilermeisters ein wohlverdientes Renommee in betreff der vorzüglichen Arbeit, des soliden Materials und der pünktlichen Lieferung. Ermutigt durch diese Erfolge, verlegte sich Herr A. W. Kaniß vom Jahre 1870 an auch auf die Fabrikation von Hanfgurten, an denen er so wesentliche Verbesserungen anbrachte, daß sie den Namen in der Geschäftswelt früher bekannt machten als ein anderer Artikel, der sich ebenfalls einer großen Popularität erfreut, nämlich die Wurzener Biskuits.
Rasch eroberten sich die Wurzener Hanfgurte das ganze Deutsche Reich als Absatzgebiet, und bald danach auch die Schweiz, Italien, Holland, Schweden, ja selbst Kleinasien, so daß zur Zeit der jährliche Umsatz an verschiedenen Seilerwaren 200 000 kg beträgt.
Natürlich genügte nun die kleine Werkstatt nicht mehr; im Jahre 1874 wurde deshalb von einer Aktiengesellschaft ein großes Grundstück außerhalb der Stadt an der Mulde erworben und mit eigener Gasanstalt versehen, 1884 wurde in diesem Etablissement auch eine zwölfpferdige Dampfanlage angebracht und elektrische Beleuchtung eingeführt.
Von diesem Zeitpunkte an begann die Maschinenarbeit die Oberhand zu gewinnen. Die Dampfmaschine setzt große englische mechanische Webstühle, Drahtseil- und Flechtmaschinen in Bewegung, zu deren Bedienung ungefähr 30 Arbeiter erforderlich sind, während 5 Kontoristen das kaufmännische Personal bilden. Die Anlage der Fabrik ist jetzt derartig, daß selbst die größten Bestellungen in kürzester Zeit geliefert werden können. Außer den schon genannten Wurzener Hanfgurten, die in Mühlen, Zucker-, Stärke- und anderen Fabriken, in Brauereien und Brennereien Verwendung finden, werden in dem Etablissement noch Draht- und Hanfseile zu Transmissionen,
Verschiedene: Die Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild. Zweiter Teil. Eckert & Pflug, Kunstverlag, Leipzig 1893, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gro%C3%9F-Industrie_des_K%C3%B6nigreichs_Sachsen_in_Wort_und_Bild_Teil_2.pdf/197&oldid=- (Version vom 4.8.2020)