Die Nähmaschine, die „eiserne Schneidermamsell“, ist ein Gegenstück zum photographischen Porträt: beide gehören zu den jüngsten Errungenschaften der modernen Wissenschaft, zu den jüngsten Erzeugnissen unserer Industrie, und beide haben binnen wenigen Jahrzehnten eine nahezu universale Verbreitung gefunden. Die Photographie an der Wand und die Nähmaschine am Fenster – beide findet man im kleinen, weltabgelegenen Dorfe, das so gut wie gar keine Beziehungen zur Außenwelt unterhält, droben im Gebirge, wo die Menschen noch keine Eisenbahn gesehen haben, auf der Hallig und im einsamen westfälischen Bauernhof, wo das Leben der Bewohner sich noch in denselben Grenzen bewegt, wie vor hundert Jahren. –
Es ist für den Kulturhistoriker hochinteressant, das Entstehen und Vervollkommnen solcher universeller Industrieprodukte, die in einem einzigen Siegeszuge gleich die ganze Welt erobern, zu verfolgen und einen Blick in die Werkstätten zu werfen, aus denen sie hervorgehen. Interessant besonders dann, wenn das betreffende Etablissement der Stadt, in der es domiziliert ist und damit den Meißner Landen mit seiner Branche einen neuen Industriezweig zuführt, der vorher dort noch nicht vertreten war. Dies ist hier bei der Firma Biesolt & Locke der Fall.
Unter sehr bescheidenen Verhältnissen gründeten die Herren Maximilian Reinhold Biesolt und Julius Hermann Locke 1869 in Meißen eine Nähmaschinenfabrik amerikanischen Systems, welch’ letzteres Anfang der sechziger Jahre man in Deutschland so gut wie gar nicht kannte.
Die Begründer waren vorher in fast allen größeren Industrie-Zentren Europas jahrelang praktisch thätig gewesen, und kehrten mit einem reichen Schatz an Erfahrungen in ihr Vaterland zurück.
Infolgedessen begann das Etablissement unter den günstigsten Auspizien und war eben im ersten Aufblühen begriffen, als der deutsch-französische Krieg ausbrach und schwere Zeiten für die junge Firma herbeiführte. Indes nach dem Friedensschluß nahm auch die Meißner Nähmaschinenfabrik Teil an dem allgemeinen Aufschwung, den die politische Neugestaltung für Handel und Industrie herbeiführte. Nicht lange dauerte es, und die Scharte war wieder ausgewetzt.
Verschiedene: Die Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild. Zweiter Teil. Eckert & Pflug, Kunstverlag, Leipzig 1893, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gro%C3%9F-Industrie_des_K%C3%B6nigreichs_Sachsen_in_Wort_und_Bild_Teil_2.pdf/44&oldid=- (Version vom 23.2.2020)