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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

trage mich jetzt mit dem Gedanken, ob solche Thränen zwischen den Zeilen bei einer allfälligen Herausgabe im Druck nicht durch einen zarten Tondruck könnten angedeutet werden? Freilich, fällt mir ein, müßte dann wohl die ganze Sammlung facsimiliert werden, was sich indessen überlegen läßt.“ Wilhelm schrieb dagegen in einem Briefe: „O liebes Herz, es ist doch traurig, so unerbittlich getrennt zu sein und immer mit der schwarzen Dinte zu sprechen, wo man das rothe Blut möchte reden lassen! Ich habe heute schon zweimal einen frischen Bogen nehmen müssen, weil mir Thränen darauf gefallen sind, und soeben konnte ich einen dritten nur dadurch retten, daß ich schnell die Hand darauf legte. Wenn Du mich nur ein wenig liebst, so verachtest Du mich nicht wegen dieser Schwachheit!“

Solche Stellen, welche sie nach ihrer Meinung besonders angingen, merzte sie sorgfältig aus in der Abschrift; dafür verwechselte sie manchmal die hochtrabenden Anreden: „Theurer Freund meiner Seele!“ und dergleichen in den Sendungen an Wilhelm mit vertraulichen Benennungen, wie „mein liebes Männchen“ oder „mein gutes Kind“, was sie dann wieder in Reu’ und Sorgen setzte, während sie die großen, hohlen Worte in den Briefen an den Mann großartig stehen ließ. Kurz, sie wünschte endlich sehnlich die Heimkehr

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)